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Architektur

Geheimnis des „Kristallpalasts“ gelüftet

Warum das im Jahr 1851 größte Gebäude der Welt so schnell gebaut werden konnte

Crystal Palace 1851
Der 1851 für die Weltausstellung in London entworfene "Crystal Palace" war damals das größte Gebäude der Welt und wurde in Rekordzeit erbaut. © historisch

Der für die Londoner Weltausstellung im Jahr 1851 erbaute „Crystal Palace“ war damals das größte Gebäude der Welt. Doch es erstaunte noch aus einem anderen Grund: Es wurde innerhalb von nur 27 Wochen errichtet. Wie war das möglich? Einen entscheidenden Grund dafür haben nun britische Forscher entdeckt. Demnach waren die kleinsten Komponenten des Monumentalbaus die wichtigsten: Der Kristallpalast war der erste größere Bau, bei dem standardisierte Schrauben und Muttern zum Einsatz kamen.

Bei der Weltausstellung 1851 in London sorgte vor allem ein Bauwerk für Staunen: der „Crystal Palace“. Diese gut 560 Meter lange und 39 Meter hohe Ausstellungshalle war zu jener Zeit das größte Gebäude der Welt – die gesamte St. Pauls Cathedral hätte dreimal in diesen Riesenbau aus Gusseisen und Glas hineingepasst. Die von der Natur inspirierte Leichtbau-Konstruktion aus mehr als 3.300 Eisensäulen und 60.000 Glasscheiben setzte auch durch ihre modulare Leichtbauweise neue Maßstäbe.

Innenansicht
Innenansicht des für damalige Zeit revolutionären „Kristallpalasts“. © historisch

Wie konnte der Crystal Palace so schnell gebaut werden?

Doch der Kristallpalast beeindruckte noch durch ein anderes Merkmal: „Die gesamte Struktur wurde in nur 190 Tagen errichtet“, berichten John Gardner von der Anglia Ruskin University in Cambridge und Ken Kiss, Kurator des Crystal Palace Museums in London. Zum Teil ist das ungewöhnlich hohe Bautempo mit dem modularen Aufbau des Bauwerks zu erklären: Die Grundeinheiten aus Gusseisenrahmen und Glasscheiben konnten vormontiert und dann relativ schnell zusammengesetzt werden.

Eine im wahrste Sinne des Wortes tragende Rolle spielten dabei die gusseisernen Säulen: „Die Säulen dienten als Stütze für das Dach und die Galerien, aber auch als Ableitungen für das Regenwasser“, erklären Gardner und Kiss. Jede Säule war zudem Ansatzstelle für mehrere Querstreben, an denen wiederum die Module mit den Glasscheiben angebracht waren.

Blick auf die kleinsten Komponenten

Aber diese Modulbauweise allein reicht nicht aus, um den rapiden Baufortschritt beim Crystal Palace zu erklären, wie die Forscher erklären. Denn zu jener Zeit dauerten selbst im Aufwand vergleichbare Projekte weit länger. Auf der Suche nach einer Erklärung richtete das Team seinen Augenmerk auf die kleinsten Komponenten des Gebäudes: die Schrauben und Muttern, die die Konstruktion zusammenhielten. Im Kristallpalast waren mehr als 30.000 solcher Gewindebolzen verbaut.

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Die Krux dabei: „Schrauben wurden bis dahin meist durch spezielle Handwerker hergestellt. Als Folge waren keine zwei Schrauben gleich“, berichten Gardner und Kiss. Jede Schraube passte zudem nur auf die mit ihr gemeinsam gefertigte Mutter. „Alle Schrauben und Muttern mussten daher entsprechend markiert werden und jede Vermischung führte zu endlosen Problemen“, zitieren die Forscher zeitgenössische Quellen.

Genormt statt handgemacht

Bis zum Bau des Kristallpalasts gab es in diesem Punkt jedoch bedeutende Fortschritte. Bereits 1841 hatte der britische Ingenieur Joseph Whitworth einen einheitlichen Standard für Gewinde vorgeschlagen. Als British Standard Whitworth (BSW) wurde dies das erste genormte Gewinde der Welt. Dank neuer Fertigungsmaschinen war es zudem möglich, Schrauben und Muttern mit solchen genormten Gewinden herzustellen.

Schraubbolzen
Schraubbolzen des Crystal Palace und neu hergestelltes Exemplar nach der bis heute geltenden Norm. Es past in die historische Mutter. © John Gardner/ Anglia Ruskin University

Bisher war jedoch unklar, ob diese neuen Norm-Schrauben schon beim Bau des Crystal Palace eingesetzt worden sind. Denn der berühmte Bau brannte im Jahr 1936 ab. „Unglücklicherweise ist keine der Streben oder Schraubbolzen erhalten geblieben und die Gewindeform ist in den zeitgenössischen Dokumenten nicht näher spezifiziert“, erklären Gardner und Kiss. Nur einige Säulenreste konnte in den 1980er Jahren geborgen werden. Bei der Untersuchung dieser im Museum aufbewahrten Relikte stieß Gardner auf einen einzigen noch vollständigen Schraubbolzen sowie mehrere Muttern.

Erster Bau mit genormten Schraubbolzen

Die Analyse dieses Bolzens enthüllte: Das Gewinde entsprach tatsächlich den heute noch gebräuchlichen Normen des Whitworth-Standards. „Ich stellte neue Schraubbolzen nach diesem Standard her und stellte fest, dass sie in die Muttern des Crystal Palace passten“, berichtet Gardner. Damit war der berühmte Weltausstellungsbau wahrscheinlich das erste große Gebäude, das mithilfe genormter Schrauben und Muttern errichtet wurde.

„Ironischerweise erhielt Whitworth zwar eine Auszeichnung für seine im Kristallpalast ausgestellten Techniken, aber seine wichtige Rolle bei der Konstruktion des Gebäudes blieb unerkannt – erst heute wird dies klar“, sagt Gardner. (International Journal for the History of Engineering & Technology, 2024; doi: 10.1080/17581206.2024.2391984)

Quelle: Anglia Ruskin University

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