In Ihrer Dissertation untersuchen Sie den Paläowald von Reichwalde. Wie hat man den Wald eigentlich gefunden?
Boeren: Das haben wir zwei Herren vom Archäologischen Landesamt Sachsen zu verdanken. Die Arbeiten in Tagebauen werden immer auch von Archäologen überwacht, weil man stets damit rechnet, dass die Bagger archäologisches Material freilegen. Bei so einer Besichtigung im Vorfeld des Tagebaus Reichwalde ist man 1997 auf mehrere gut erhaltene Baumstämme gestoßen. Und die Archäologen Rengert Elburg und Paul van der Kroft hatten sofort ein Auge dafür, dass es sich hier um etwas Besonderes handeln musste. Die hinzugezogenen Dendrochronologen haben ja dann auch das hohe Alter der Bäume bestätigt. Und dass es nach und nach immer mehr Bäume wurden, das war einfach Glück.
g-o.de: Was ist das Besondere an diesem Fund?
Boeren: Der Wald ist deshalb einmalig, weil ein Fund von diesen Ausmaßen nur ganz selten gelingt. Wir haben insgesamt über 1.500 Bäume gefunden, die auf einem Gebiet von etwa einem Quadratkilometer verstreut lagen. Das ist eine unglaubliche Menge an Holz, die wir jetzt für unsere Forschungen zur Verfügung haben. In der Regel findet man meist nur einzelne Holzstücke, die man aus Mooren oder aus Torf birgt. Durch die große Menge an einzelnen Bäumen bekommen wir eine repräsentative Aussage über den gesamten Baumbestand in einem bestimmten Zeitfenster, so dass wir ziemlich genau sagen können, welche Bäume hier gewachsen sind, wie alt sie wurden und warum sie irgendwann abstarben. Möglicherweise gibt es noch viel mehr solcher Waldrelikte, nur wissen wir nicht, wo wir danach suchen sollen, so dass jeder Zufallsfund etwas Besonderes ist.
g-o.de: Welchen Beitrag leistet die Dendrochronologie bei der Untersuchung des Waldes?
Boeren: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass bei dem Projekt nur die Zusammenarbeit mehrerer Kollegen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu einem umfassenden Bild führen kann. Wir möchten ja nicht nur wissen, wann der Wald gelebt hat, sondern möglichst auch die Vegetationsgeschichte und Entwicklung des Ökosystems rekonstruieren. Neben der Dendrochronologie spielen deshalb auch die Pollenanalyse und die Untersuchung von Samen, Früchten, Fasern, Moosen, manchmal kleinen Ästen, also die Analyse von so genannten Makroresten, eine wesentliche Rolle. Auch Geologie und Sedimentologie sind für unser Projekt wichtig. Die Untersuchungen von den Baumstümpfen, den Wurzeln und Ästen, auch die Bestimmung der Holzart, gehören in unserem Projekt wie in den meisten ähnlichen Fällen zur Dendroökologie.
Was die Dendrochronologie erlaubt, ist natürlich die Datierung der Bäume. Außerdem lassen sich anhand der Baumringe aber auch klimatische Bedingungen und verschiedene Ereignisse im Wald, wie steigende Wasserstände oder Waldbrände, rekonstruieren.
g-o.de: Wobei hilft die Pollenanalyse, und was kann man aus Baumstümpfen oder Kiefernzapfen erkennen?
Boeren: Die Pollenanalyse sagt etwas über den Aufbau der Vegetation aus, allerdings eher im weiteren Umfeld. Denn Pollen können auch von der Ferne herangeweht worden sein. Pollen geben einen Einblick in die zeitliche Abfolge der Vegetationsentwicklung und ermöglichen so eine vegetationsgeschichtliche „Datierung“. Die Pollenanalyse reicht zeitlich viel weiter als die Dendrochronologie. Mithilfe von Pollen haben wir zum Beispiel nachgewiesen, dass es in Reichwalde schon lange vor dem Wachstum der Bäume, die wir gefunden haben, Kiefern gegeben hat.
Die Analyse von Samen, Früchten oder Ästen sagt uns, was unter und neben den Bäumen gewachsen ist. Sie bietet also einen lokalen Einblick in die Vegetation, weil Äste und Früchte natürlich nicht so weit fliegen wie Pollen. Außerdem erlaubt sie uns, manche Pflanzen artgenau zu bestimmen, und nicht nur gattungsgenau, worauf wir bei Pollen und holzanatomischen Analysen meist beschränkt sind. Auch die Makrorestanalyse hat bewiesen, dass die Kiefer in Reichwalde schon lange vor der Walderhaltung vorhanden war. Denn in älteren Sedimentschichten unter den erhaltenen Bäumen haben wir Kiefernnadeln gefunden.
g-o.de: Wie alt ist der Wald?
Boeren: Mit Hilfe der Baumringe und der Radiokarbondatierung konnten wir feststellen, dass der Wald vor etwa 14.000 Jahren entstanden ist und mehr als 800 Jahre existiert haben muss. Der Wald stammt damit aus der Zeit des so genannten Spätglazials. Das war am Ende der letzten Eiszeit, wo es noch etwas kälter war als heute. Gletscher lagen aber zu dieser Zeit nicht mehr in Deutschland. Hilfreich war für uns die Standardchronologie von spätglazialen Kiefern aus Hohenheim, mit der wir die Bäume zeitlich einordnen konnten. Im Gegenzug konnten wir die Hohenheimer Chronologie durch Proben aus Reichwalde aber auch neu belegen und ergänzen.
g-o.de: Können Sie sagen, wie es im Wald ausgesehen hat?
Boeren: Natürlich kann man einen Wald, der mindestens 800 Jahre existiert hat, nicht mit einem Wort beschreiben. Der Wald hat sich über diesen langen Zeitraum ja auch verändert. Neue Pflanzen haben Einzug gehalten, andere sind verschwunden, Seen sind entstanden. Wir wissen, dass in dem Wald hauptsächlich Kiefern wuchsen, dazwischen vereinzelt Birken, Pappeln und Erlen. Es gab Zeiten, da müssen regelmäßig Waldbrände gewütet haben, was wir daran erkennen, dass die Kiefern nicht sehr alt geworden sind und dass sie Feuerwunden im Holz haben. Irgendwann haben die Brände keine große Rolle mehr gespielt, vermutlich wurde es zu feucht, und die Brände konnten nicht mehr ausbrechen. Alles in allem hatte der Wald eine sehr heterogene Struktur, mit heutigen Forsten ist das nicht zu vergleichen.
g-o.de: Gibt es heute noch irgendwo solche Wälder, wie sie ihn beschreiben?
Boeren: Der Wald hat möglicherweise heutigen Wäldern in Sibirien geähnelt.
g-o.de: Sie sagten, es hätte sehr häufig gebrannt in dem Wald. Wie ist der Wald mit den vielen Bränden zurechtgekommen? Wie kommt es, dass er so lange erhalten blieb, trotz dieser ständigen Gefahr?
Boeren: Eigentlich war das für den Wald vermutlich gar kein so großes Problem, weil er fast ausschließlich aus Kiefern bestanden hat. Und Kiefern und Brände, das geht perfekt zusammen. Die Kiefer ist ein Baum, der sich quasi „genetisch“ auf Feuer eingestellt hat.
g-o.de: Könnten Sie das näher erläutern?
Boeren: Ja, manche Wissenschaftler meinen, dass Kiefern andere Bäume geradezu „ermorden“. Das soll heißen, sie begünstigen die Waldbrände und profitieren sogar davon, so dass sie andere Baumarten nach und nach verdrängen. Die meisten Kiefernarten haben eine sehr dicke Borke, die sehr feuerbeständig ist. Nur sehr junge Kiefern werden von Bränden mit niedrigen Flammen getötet, weil ihre Borke noch dünn ist. Die meisten anderen Bäume und Sträucher haben nicht so einen guten Schutz. Außerdem produzieren die Kiefern mit ihren Nadeln eine Streu, die sehr gut brennt. Bei einigen nordamerikanischen Kiefernarten springen die Zapfen nur bei großer Hitze auf, so dass die Samen erst durch das Feuer frei werden. Fallen die Samen dann auf den verbrannten Waldboden, haben sie hier in Form der Asche leicht verfügbare Nährstoffe in Hülle und Fülle. Die Kiefern im Reichwalder Wald sind durch die Brände nicht sehr alt geworden, aber der Baumbestand konnte sich vermutlich genau auf diese Art und Weise immer wieder regenerieren.
g-o.de: Warum sind die Bäume gerade hier erhalten geblieben?
Boeren: Die Bäume, die wir gefunden haben, sind irgendwann „ertrunken“. In dem Wald muss es zwischen einzelnen Bauminseln viele Tümpel und Teiche gegeben haben, aus denen nach und nach Moore entstanden sind. Gerieten die Bäume ins Moor, blieben sie hier unter Abschluss von Sauerstoff erhalten. Dass es in dem Wald zeitweise sehr feucht gewesen sein muss, können wir auch daraus schlussfolgern, dass die Bäume sehr schmale Baumringe haben, die auf schlechte Wachstumsbedingungen hinweisen. Den Kiefern ist es zu dieser Zeit sicherlich schon nicht mehr so gut gegangen.
g-o.de: Was ist nach den Untersuchungen in Reichwalde passiert? Liegen alle Bäume fein säuberlich sortiert in Ihrem Lager?
Boeren: Ja, aber nur teilweise. Von allen nummerierten und kartierten Bäumen wurden Baumscheiben mitgenommen, pro Baum wenigstens eine Scheibe, wo die erhaltene Länge es zuließ, mehrere, weil verschiedene Scheiben von einem Baum uns auch Aussagen über das Höhenwachstum der Bäume erlauben. Die Proben sind jetzt an der Universität Hohenheim, wo sie vakuumverpackt aufbewahrt werden. Bei Bedarf können wir uns die Baumscheiben noch einmal vornehmen. Der Rest wurde vor Ort wieder zugeschüttet.
g-o.de: Wie, der kostbare Schatz wurde wieder zugeschüttet?
Boeren: Ja, genau, eben weil es sich um einen Schatz handelt. Vielleicht ist man in hundert Jahren ja in der Lage, das Holz mit besseren Methoden zu untersuchen. So sind die Bäume jetzt am besten konserviert und vor Austrocknung und dem endgültigen Verfall geschützt. Der Fundort ist aufgenommen und kartiert, und falls jemand lange nach uns noch einmal Lust bekommt, kann er alles wieder ausgraben. Vorausgesetzt, die zurzeit ruhende Arbeit im Tagebau wird nicht wieder aufgenommen und die Braunkohle nicht weiter ausgebaggert, dann bleibt unseren Nachkommen natürlich nicht mehr viel übrig.
g-o.de: Frau Boeren, wir bedanken uns für das Gespräch.
Stand: 05.11.2004