Wir schreiben das Jahr 1790. Samuel Hahnemann ist gerade 35 Jahre alt und hat schon einiges hinter sich: Medizinstudium in Leipzig und Wien, Stellungen als Leibarzt eines Freiherrn, als niedergelassener Arzt und als Stadtphysicus in Dresden. Nebenbei führt er chemische Versuche durch, übersetzt medizinische Schriften aus dem Englischen und experimentiert mit Arzneimitteln aller Art.
Jetzt ist Hahnemann gerade mitsamt Familie nach Stötteritz bei Leipzig gezogen um sich hier in Ruhe einer weiteren Übersetzungsarbeit widmen zu können. Es handelt sich um das zweibändige Werk „A treatise of the Materia medica“ des schottischen Chemikers und Mediziners William Cullen. Dieser schreibt in einem Abschnitt über Pflanzenwirkstoffe, dass die Chinarinde – deren lindernde Wirkung bei Malaria damals bereits bekannt war – ihre Heilkraft magenstärkenden Eigenschaften verdanke. Hahnemann, der in seiner Zeit als Leibarzt schon Malariapatienten behandelt hat und vermutlich auch selbst daran erkrankt war, bezweifelt dies jedoch. Er beschließt einen Selbstversuch:
„Vier Quentchen gute China…“
„Ich nahm des Versuchs halber etliche Tage zweimahl täglich jedesmahl vier Quentchen gute China ein“, beschreibt er sein Vorgehen und notiert auch gewissenhaft seine Symptome: „Die Füße, die Fingerspitzen, u.s.w. wurden mir erst kalt, ich ward matt und schläfrig, dann fing mir das Herz an zu klopfen, mein Puls ward hart und geschwind, eine unleidliche Ängstlichkeit, ein Zittern (aber ohne Schauder), eine Abgeschlagenheit durch alle Glieder; dann ein Klopfen im Kopfe, Röthe der Wangen, Durst, kurz alle mir sonst beim Wechselfieber gewöhnlichen Symptome erschienen nacheinander; doch ohne eigentlichen Fieberschauder.“
„Similia similibus curentur“
Für Hahnemann ist klar: Die Chinarinde wirkt nicht, wie Cullen postuliert, weil sie den Magen stärkt. Stattdessen scheint ihre Wirksamkeit daran erkennbar zu sein, dass sie bei ihm als Gesunden genau die gleichen Symptome hervorruft wie die Krankheit. Sollte dies vielleicht bei anderen Mitteln auch der Fall sein? Mehrere Jahre lang verfolgt Hahnemann diese Hypothese in Experimenten, weiteren Selbstversuchen und Hunderten von Tinkturen und Extrakten. Dann ist er sich sicher: „Bloß jene Eigenschaft der Arzneien, eine Reihe spezifischer Krankheitssymptome im gesunden Körper zu erzeugen, ist es, wodurch sie Krankheiten heilen, das ist, den Krankheitsreiz durch einen angemessenen Gegenreiz aufheben und verlöschen können.“
Woraus die eingesetzten Arzneien bestehen, ob Pflanzenstoffe oder andere chemische Substanzen, ist für Hahnemann gleichgültig, entscheidend sei nur die Befolgung des Prinzips „Similia similibus curentur“ – Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt. Dieses Simile-Prinzip bildet auch heute noch die tragende Säule der Homöopathie: „Nur das homöopathische Arzneimittel kann wirken, das in einer Prüfung am Gesunden, die Symptome hervorgerufen hat, an denen der Erkrankte leidet. Kaffee kann das Mittel gegen Schlaflosigkeit sein und die Zwiebel, als homöopathische Arznei zubereitet, kann einen Schnupfen heilen…“, erklärt die Website des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte (DZVhÄ).
Allergische Reaktion statt Ähnlichkeitswirkung
Der Chinarindenversuch gilt heute oft als Geburtsstunde der Homöopathie – obwohl er nie reproduziert werden konnte. Auch ein vielbeachteter Selbstversuch des Gießener Pharmokologieprofessors Ernst Habermann während einer Vorlesung schlug 1997 fehl. Die Durchführenden spürten allenfalls leichte Verdauungsprobleme, entwickelten aber in keinem Fall malariaartige Symptome, wie sie Hahnemann schilderte.
Nach heutiger Kenntnis hatten die von ihm beobachteten Effekte vermutlich weniger mit dem Ähnlichkeits-Prinzip als vielmehr mit einer individuellen Unverträglichkeit zu tun. Es handelte sich wahrscheinlich um eine allergische Reaktion auf das in der Chinarinde enthaltene Chinin, das er bereits früher gegen Malaria eingenommen hatte. Möglicherweise reagierte er auch übersensibel auf eine die Herzfrequenz erhöhende Komponente des Extrakts. „Der Chinarindenversuch basiert auf Intuition. Er war zufällig. Es war ein zeitbedingter Irrtum“, erklärt der Homöopath Georg Bayr 1990 in einer Monographie zum 200. Jubiläum des Chinarindenversuchs. „Der Irrtum war fruchtbar, da die Homöopathie daraus entstand.“
Nadja Podbregar
Stand: 26.03.2010