Dass Migräne weit mehr ist als nur einfache Kopfschmerzen, zeigt unter anderem das Phänomen der Aura. Bei rund zehn Prozent der Migräniker sind die Attacken dabei von zusätzlichen neurologischen Erscheinungen begleitet. Beginnend meist eine halbe Stunde oder Stunde vor dem Auftreten der Kopfschmerzen, kann sich der Anfall beispielsweise durch eine Sehstörung ankündigen:
Schimmerndes Zinnenmuster
„Ein helles, schimmerndes Licht erschien zu meiner Linken – blendend hell, fast so wie die Sonne“, beschreibt der Neurologe Oliver Sacks seine erste Migräne-Erfahrung als Vierjähriger. „Es dehnte sich aus, wurde zu einem enormen schimmernden Halbkreis, der sich vom Boden bis zum Himmel erstreckte, mit scharfen Zickzack-Rändern und in brillanten blauen und orangen Farbtönen. Dann, nach der Helligkeit kam eine Blindheit, eine Leere in meinem Gesichtsfeld, und bald konnte ich auf meiner linken Seite fast nichts mehr sehen. Meine Sicht kehrte nach einigen Minuten zur Normalität zurück, aber dies waren die längsten Minuten, die ich bis dahin jemals erlebt hatte.“
Diese von einem deutlichen Rand begrenzte Form der visuellen Aura wird heute als Skotom bezeichnet. Typisch dafür sind das Zinnenmuster und der von ihm eingegrenzte „leere Fleck“. Ähnliche Zickzack-Muster sah offenbar auch der berühmte Astronom John Herschel häufiger. Er schrieb 1850 in einem Brief an seinen Kollegen und Freund George Airy: „Habe das Zinnenmuster heute zweimal in meinen Augen gesehen. Eine Art von Schachmuster füllte es aus, und eine Art Teppichmuster im Rest des Sehbereichs.“ Von ähnlich geometrischen Mustern berichten auch andere Migräniker. Seltsamerweise aber auch Patienten, die unter Drogen stehen oder aus einem Unterzuckerungs-Delirium erwachen.
Mikrowellen-Popcorn als Vorwarnzeichen
Aber nicht nur der Sehsinn, auch andere Formen der Wahrnehmung können von einer Aura betroffen sein. So erleben einige Migräniker auch Verzerrungen oder Halluzinationen von Geruch oder Geschmack. Wie konkret diese Erscheinungen werden können, beschreibt unter anderem Migränepatientin Charlotte im Migräneblog der New York Times: „Das Anzeichen dafür, dass eine schwere Attacke naht, ist seltsamerweise der deutliche Geruch von Mikrowellen-Popcorn. Ich rieche es dann überall, es ist aber unmöglich, die Geruchsquelle zu finden. Manchmal scheint der Duft sogar direkt aus meinen Fingerspitzen zu strömen. Ich besitze gar keine Mikrowelle und aus offensichtlichen Gründen hat Popcorn für mich keinerlei Anziehung.“
Neben solchen Halluzinationen kann auch das Selbstbild oder die Eigenwahrnehmung während einer Migräne-Aura verändert oder gestört sein. Das Spektrum reicht hier von einem kribbelnden Gefühl in den Extremitäten oder Lippen bis hin zu Sprechstörungen oder sogar einseitigen Lähmungen. Einige Migräniker beschreiben zudem ein Gefühl der Ich-Auflösung, einem vorübergehenden Zustand der Entpersonalisierung.
Alice im Wunderland-Syndrom
„Es gibt aber auch Erfahrungen, bei denen sich das Körperbild verzerrt, so dass sich die Betroffenen sehr groß oder sehr klein fühlen“, erklärt Sacks. Manche sehen und empfinden dabei nur einzelne Gliedmaßen von sich als grotesk aufgebläht oder geschrumpft. „Wenn ich mich hinsetze, fühle ich mich plötzlich, als wenn mein Kopf so groß ist wie der Tisch, während meine Hände, Füße und mein Rumpf ganz klein werden“, zitiert der russische Neurologe Alexander Lurija seinen Patienten Zazetsky.
Dieser Verzerrungseffekt, auch als „Alice im Wunderland-Syndrom“ bezeichnet, könnte sogar der Auslöser für die namensgebende Geschichte gewesen sein. Denn der Buchautor Lewis Carroll litt unter einer Migräne mit Aura. Möglicherweise haben ihn seine Erfahrungen mit solchen Aura-Phänomenen auf den Einfall der größenverändernden Tränke und Kekse in seinem Buch gebracht.
Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011