Weitreichende Verbindungen zwischen Nervenzellen tragen dazu bei, die Entwicklung unterschiedlicher Bereiche des Gehirns und sogar der beiden Gehirnhälften aufeinander abzustimmen – und dies noch über viele Wochen nach dem Beginn des Sehens.
Dies hat jetzt ein Forscherteam um Fred Wolf vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Göttingen und Siegrid Löwel von der Universität Jena in einer neuen Studie in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) gezeigt.
Strukturbildung im Gehirn
Die Aktivität von Nervenzellen trägt zur Strukturbildung des Gehirns bei, so dass die Informationsverarbeitung letztlich auch durch Übung gelernt wird. Lange Zeit sind Wissenschaftler davon ausgegangen, dass eine solche aktivitätsabhängige Strukturbildung nur lokal wirkt, während die grobe Architektur des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt bereits angelegt ist. Diese Vorstellung stellen die Wissenschaftler aus Göttingen und Jena jetzt jedoch in Frage.
Sie haben für ihre Untersuchung Bereiche der Hirnrinde untersucht, die Informationen aus den Augen verarbeiten: die primäre Sehrinde (V1), die auf die Ermittlung von Konturen spezialisiert ist, und die sekundäre Sehrinde (V2), die eher auf größere und auch schneller bewegte Reize reagiert.
Teamwork beim Sehen
In jedes dieser Gebiete werden Informationen aus der Netzhaut der Augen so auf die Sehrinde übertragen, dass benachbarte Orte auf der Netzhaut auch benachbarte Bereiche der Sehrinde aktivieren. In der Sehrinde bilden sich in Laufe des Sehenlernens so genannte Kolumnen, Gruppen benachbarter Nervenzellen, die gemeinsam einen Teilaspekt der Sehleistung erbringen.
Primäre und sekundäre Sehrinde sind zwar auf unterschiedliche Aspekte der Bildverarbeitung spezialisiert, sie arbeiten jedoch eng zusammen und sind über weiter reichende Nervenverbindungen miteinander verbunden: Regionen von V1 und V2, die den gleichen Bereich des Gesichtsfeldes analysieren, sind besonders stark miteinander verknüpft.
Wolf und seine Kollegen haben nun mit Hilfe komplexer Bildanalyseverfahren entdeckt, dass diese weit reichenden Verknüpfungen die Größe der Kolumnen und damit Struktur der Gehirngebiete selbst beeinflusst.
Größe der Kolumnen variiert
„Die Größe der Kolumnen variiert stark – sowohl innerhalb der Sehrinde als auch von Individuum zu Individuum“, erklärt Löwel, die die Experimente durchgeführt hat. Dennoch ließen sich Regeln erkennen: Weisen in einem Tier zum Beispiel bestimmte Bereiche von V1 besonders große Kolumnen auf, so zeigen die entsprechenden Bereiche in V2, die den gleichen Bildbereich verarbeiten, auch sehr große Kolumnen.
Es sind also genau die Bereiche in der Größe ähnlich, zwischen denen auch lang reichende neuronale Verknüpfungen bestehen. Darüber hinaus beobachteten die Wissenschaftler Symmetrien in der Kolumnengröße zwischen der Sehrinde in der linken und rechten Hirnhälfte – allerdings erneut nur in den Bereichen, die stark miteinander verschaltet sind.
Auch weit reichende Beziehungen müssen gelernt werden
Diese Korrelationen bestehen nicht von Geburt an, sondern entstehen erst in den Wochen nach der Öffnung der Augen. Nach der Geburt kann der Mensch noch nicht perfekt sehen. Diese Sinneswahrnehmung muss erst gelernt werden indem sich das Gehirn entsprechend verschaltet.
„Die erste Phase des Sehenlernens dauert bei uns Menschen sechs Monate und bei Katzen etwa 18 Wochen. Es war lange Zeit nicht klar, warum diese Entwicklungsprozesse so lange dauern“, sagt Wolf. Offenbar wird in dieser Lernphase die Architektur ganz unterschiedlicher Hirnbereiche aufeinander abgestimmt, damit am Ende die linke Hirnhälfte zur rechten passt. „Wie in einer globalisierten Welt, in der es lokale und weitreichende Kontakte gibt und beide gleich wichtig sind, basiert auch der Informationsaustausch während der Hirnentwicklung auf einem Zusammenspiel von kurzen und weitreichenden neuronalen Verbindungen“, so Wolf weiter.
(idw – Max-Planck-Gesellschaft, 01.09.2009 – DLO)