Folgen mehrere Sinnesreize aufeinander, erfolgt die Integration der Information auf höherer neuronaler Ebene. Dass dieses Dogma nun wankt, ist einer Gruppe von Informatikern und Neurowissenschaftlern der Technischen Universität (TU) Graz und des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung zu verdanken.
Erinnerungswürdige Ergebnisse
„Wir konnten zeigen, dass neuronale Reaktionen auf einen visuellen Reiz auch Informationen beinhalten können, die von einem vorhergehenden Reiz stammen“, erläutert Professor Wolfgang Maass, Leiter des Instituts für Grundlagen der Informationsverarbeitung der TU Graz, und fährt fort: „Das ist eine simple Form von Erinnerung zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Informationsverarbeitung in unserem Gehirn. Tatsächlich wurde bisher angenommen, dass die Integration von Information aus aufeinanderfolgenden Reizen erst später, das heißt auf einer höheren neuronalen Ebene, erfolgt.“
Die Daten sind das Ergebnis eines anspruchsvollen experimentellen Designs. Bei diesem wurden parallele „live recordings“ von rund 100 Nervenzellen des Visuellen Cortex von Säugetieren direkt am Computer ausgewertet. Besonders interessierte das interdisziplinäre Team bestehend aus Stefan Häusler, Maass und den Frankfurter Hirnforschern Danko Nikolic und Professor Wolf Singer, wie die Information in den so genannten „Spikes“ – also kurzfristigen Anstiegen des elektrischen Membranpotenzials von Nervenzellen – kodiert wird. Dazu wurden neue Methoden der automatischen Mustererkennung verwendet.
Wesentlich am Experiment war, dass die Spikes von zahlreichen Nervenfasern gleichzeitig gemessen wurden – erst so zeigten sich die relevanten Muster. Die genaue Analyse der Spikes aller 100 Nervenfasern ergab, dass die Erinnerung auf zwei verschiedene Weisen codiert wurde: in der Anzahl der Spikes und in ihrer zeitlichen Abfolge.
Wie rechnet das Gehirn?
Zu weiteren überraschenden Ergebnissen meint Häusler: „Diese Daten zeigen auch, dass die Nervenreaktion schon in der ersten Verarbeitungsstufe im Gehirn mehrere 100 Millisekunden andauern konnte. Das ist vor dem Hintergrund der Geschwindigkeit von physiologischen Vorgängen in Nervenzellen ausgesprochen lang.“
Insgesamt ergeben diese Ergebnisse einen ersten experimentellen Beweis für das von Maass gemeinsam mit Hirnforschern erarbeitete neue Modell für Rechenvorgänge im Gehirn, dem „liquid computing model“. Dieses geht im Gegensatz zu bisher vorherrschenden theoretischen Modellen davon aus, dass „biologische Computer“ nicht jede Information für sich in einem festen Zeittakt bearbeiten – wie an einem Fließband -, sondern in kleinen Paketen, bestehend aus ineinanderfließenden und sich überlagernden Informationen aus verschiedenen Zeitabschnitten.
Das „liquid computing“ hat inzwischen bereits zahlreiche Anhänger in der technologischen Forschung gefunden. Man hat entdeckt, dass man auf diese Weise auch verschiedene Flüssigkeiten und Festkörper – bei denen ebenfalls äußere Einwirkungen nachschwingen und sich überlagern – zur Informationsverarbeitung ohne festen Zeittakt benutzen kann.
(Technische Universität Graz/PR&D/Wissenschaftsfonds FWF, 23.12.2009 – DLO)
23. Dezember 2009