Streit um die vermeintliche Neuentdeckung der ältesten Schrift der Welt: Kanadische Archäologinnen hatten im Februar Forschungen vorgestellt, nach der schon in 35.000 Jahre alten Felszeichnungen in Frankreich symbolische Schriftzeichen verbreitet waren. Sie sollen nicht vom modernen Menschen, sondern bereits von früheren Menschenformen stammen. Dieser Theorie haben andere Felsbildarchäologen nun widersprochen.
Es schien, als hätten zwei kanadische Forscherinnen die Urgeschichte neu geschrieben. Im Februar veröffentlichte das Fachmagazin „New Scientist“ einen Artikel darüber, dass die Altsteinzeitarchäologin April Nowell und die Studentin Genevieve von Petzinger von der kanadischen University of Victoria die älteste Schrift der Welt entdeckt hätten. Die Forscherin hatte eine umfangreiche Datenbank zusammengestellt, in der sie Zeichen aus 146 Fundstellen in Frankreich aus der Zeit vor 35.000 bis vor 10.000 Jahren erfasste. Dabei stieß sie auf 26 Zeichen, die im gleichen Stil immer wieder an verschiedenen Fundstellen auftauchten.
Schrift schon vor modernem Menschen in Europa?
Für von Petzinger ein Indiz dafür, dass es sich hier um die älteste Form einer Schrift, symbolischer Zeichen mit bestimmter Bedeutung handeln musste. Bisher habe, so die Wissenschaftlerin, noch niemand all die Funde in den verschiedenen Eiszeithöhlen zusammengetragen und die Zeichen verglichen. Ihrer Ansicht nach müssten bisherige Vorstellungen über die Urgeschichte umgeschrieben werden, da diese Schrift offenbar bereits vor Ankunft des modernen Menschen aus Afrika in Europa existierte. Vermutlich sei sie mit Vorformen des Menschen aus Afrika in den Norden gekommen. Zuvor hatte man erst dem modernen Hom spaiens die Fähigkeit zur Abstraktion und Symbolik zugeschrieben.
Widerspruch gegen vermeintliche „Neuigkeit“
Jetzt hat der Felsbildarchäologe Tilman Lenssen-Erz vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität zu Köln dieser vermeintlichen Entdeckung widersprochen. Er erklärt, dass die Erkenntnis über die Vorkommen der Zeichen keineswegs neu sind sondern bereits seit über 50 Jahren existieren. „Die Literatur zu diesem Thema füllt bereits Regale und eine komplexe semiotische Interpretation der Zeichen und ihrer Verteilung wurde bereits seit den 1950er Jahren durch fachbekannte Forscher wie André Leroi-Gourhan ausgearbeitet“, so Lenssen-Erz, der sich seit 1986 mit der Forschung auf diesem Gebiet beschäftigt. Die Kanadierin von Petzinger recherchierte gerade einmal vier Monate.
Wie alt sind erste afrikanische Schriftzeichen?
Auch die Aussagen der Forscherin, dass die Annahmen zu prähistorischen Menschen neu überdacht werden müssten, kritisiert der Felsbildarchäolge: „Für all das findet man in seriös empirischen Studien keinerlei Belege“, entgegnet Lenssen-Erz dieser Auffassung. „Die Qualität der Sammlung ist sehr fraglich, da in der Sahara, einer der reichsten Felskunstregionen unserer Erde, von der Wissenschaftlerin am wenigsten Zeichen aufgelistet wurden“, sagt Lenssen-Erz. „Dort sind aber sehr viele Zeichen vorhanden. Gleiches gilt für Skandinavien und Sibirien, die völlig fehlen.“
Überdies müsste die Theorie laut Lenssen-Erz umgekehrt sein. „Die in französischen Höhlen gefundenen Zeichen sind viel älter als die in Afrika: Sie stammen aus der Eiszeit, die in der Sahara sind nacheiszeitlich datiert.“ Die Forscherin allerdings beruft sich auf neue Entdeckungen von abstrakten Zeichnungen in der südafrikansiche Kapregion, bei der in Hämatit gravierte Zeichen auf ein Alter von 75.000 Jahren datiert worde waren. 100.000 Jahre alte symbolische Ornamente in Form von Perlen seien zudem auch in der Skhul Höhle in Israel gefunden worden.
Kritik auch von anderen Forschern
Rückendeckung bekommt Lenssen-Erz dagegen auch von internationalen Kolleginnen und Kollegen. Die südafrikanische Prähistorikerin Sarah Wurz, die seit einigen Monaten den Kölner Sonderforschungsbereich 806 verstärkt, verweist darauf, dass prähistorische Zeichen bereits seit 30 Jahren eine zentrale Rolle in Theorien zu veränderten Bewusstseinszuständen, wie etwa Trance, spielen. Das tatsächliche Alter der vielen Zeichen sei aber völlig ungelöst.
Ein französischer Forscherkollege von Lenssen-Erz äußert sich noch schärfer in seiner Kritik an dem „New Scientist“-Beitrag: „Kurzum eine schludrige Veröffentlichung, die Jahrzehnte der minutiösen Forschung ignoriert und als Neuigkeit in einer großen englischsprachigen Fachzeitschrift präsentiert wird“, schreibt Jean-Loïc LeQuellec vom französischen Forschungszentrum Centre National de la Recherche Scientifique in seinem Blog. Beide Forscher sind sich einig: Den vermeintlichen Schlüssel der Erkenntnis über den Ursprung der ersten Schrift liefert die Veröffentlichung nicht.
(Universität zu Köln, New Scientist, 22.04.2010 – NPO)