Phasenübergänge wie das Gefrieren von Wasser zu Eis gehören zu den Phänomenen des Alltags. In der Regel weiß man, was bei einem Phasenübergang mit Atomen oder Molekülen passiert. Doch es gibt eine Ausnahme. Ein mysteriöser Phasenübergang einer Verbindung aus Uran, Ruthenium und Silicium gibt Physikern seit 20 Jahren Rätsel auf. Doch nun ist ein internationales Wissenschaftlerteam bei der Erforschung dieses Phänomens einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Die Forscher stellen ihre Ergebnisse in „Nature“ vor.
Die Uranverbindung URu2Si2 gehört zu einer Klasse von Materialien, die Physiker vor Rätsel stellt: die so genannten Schwerfermionen-Materialien. Ihren Namen haben sie von den besonders schweren Ladungsträgern, die zur Teilchenklasse der Fermionen gehören, in ihrem Innern. Elektronen und andere Ladungsträger bewegen sich in diesen Materialien so, als würden sie bis zu 1.000-Mal mehr wiegen als ein freies Elektron. Dieses Phänomen glauben die Forscher im Prinzip zu verstehen: Die Ladungsträger erreichen das außerordentliche Gewicht durch Wechselwirkung mit ihrer Umgebung, ähnlich einem Löffel, der schwerer erscheint, wenn man ihn durch Honig zieht.
Phänomen Supraleitung
Die Schwerfermionen-Materialien zeigen aber auch eine Reihe von Eigenschaften, die mit der herkömmlichen Theorie der Festkörper nicht erklärbar sind. Beispielsweise werden einige von ihnen bei sehr tiefen Temperaturen supraleitend, was an sich nicht ungewöhnlich ist. Im supraleitenden Zustand bilden manche Schwerfermionen-Materialien aber auch magnetische Zustände aus, ähnlich einem Eisenstück, das in einem Magnetfeld magnetisiert wurde. Supraleitung und Magnetismus gelten in der herkömmlichen Theorie der Supraleitung als sich gegenseitig ausschließende Materialeigenschaften, ihre Koexistenz also als unmöglich.
Ähnlich rätselhaft ist der Phasenübergang der Uranverbindung URu2Si2 bei 17,5 Kelvin – rund minus 255 Grad Celsius -, der vor rund 20 Jahren entdeckt wurde. Bei dieser Temperatur setzt das Material Entropie frei, das heißt, das Maß an Unordnung in seinem Innern wird kleiner, ähnlich wie bei gefrierendem Wasser, durch den Übergang von frei beweglichen Wassermolekülen zu fest in einem regelmäßigen Kristallgitter gebundenen Molekülen im Eis.
Lösung des Rätsels rückt näher
Physiker nahmen zunächst an, dass sich die magnetische Ordnung in der Uranverbindung vergrößert, ähnlich wie bei einem Metall beim Unterschreiten einer bestimmten Temperatur. In dem Metall richten sich die winzigen Elementarmagnete, nämlich die mit den Atomen und Elektronen verbundenen magnetischen Momente, parallel oder antiparallel aus, wie Soldaten im Spalier. Doch Messungen der magnetischen Momente mit Neutronenstrahlen zeigten, dass dem im URu2Si2 nicht so ist. Also nahm man mangels anderer Erklärungen an, dass sich eine Form der magnetischen Ordnung etabliert, die sich mit herkömmlichen Methoden nicht nachweisen lässt. Bislang blieben die Erklärungsversuche aber reine Spekulation.
Nun haben Forscher um den Physiker J.C. Séamus Davis von der Cornell University im US-Bundesstaat New York eine ganze Klasse von Erklärungen ausgeschlossen und sind damit der Lösung des Rätsels einen großen Schritt näher gekommen. Maßgeblich an den Messungen beteiligt war der Physiker Peter Wahl des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung in Stuttgart. Mithilfe der von Davis entwickelten Spektroskopisch Abbildenden Rastertunnelmikroskopie lässt sich die Zustandsdichte der Elektronen an der Oberfläche mit atomarer Genauigkeit abbilden. Aus dieser Größe lässt sich berechnen wie groß die Dichte der Ladungsträger an der Oberfläche ist.
Bestehende Festkörpertheorie muss erweitert werden
Viele Erklärungsmodelle für die versteckte Ordnung beim Phasenübergang gründen auf der Vorstellung, dass die Dichte der Ladungsträger ein wellenähnliches Muster ausbildet, sobald die Temperatur des Materials 17,5 Kelvin unterschreitet. Um diese Annahme testen zu können, haben die Forscher nun mit dem Rastertunnelmikroskop eine Art Landkarte der Ladungsträgerdichte aufgenommen, die einen rund 10.000 Atome umfassenden Ausschnitt der Oberfläche des Materials zeigt.
Dafür muss das Mikroskop in der Lage sein, bis zu hundert Stunden am Stück unter konstanten Bedingungen zu laufen. Denn nur dann kann nicht nur ein Punkt, sondern eine ganze Fläche Punkt für Punkt abgetastet werden, und das bei verschiedenen Temperaturen. So lassen sich Änderungen der elektronischen Zustände beobachten, wenn die Temperatur unter 17,5 Kelvin sinkt. Diese Art Messungen erfordern eine extrem ruhige und schwingungsfreie Umgebung für das Mikroskop, die nur darauf optimierte Speziallabore bieten können. Die technischen Voraussetzungen dafür haben die Forscher um Davis in jahrelanger Arbeit geschaffen.
Keine Ladungsdichteschwankungen
Die Messungen zeigten, dass die erwarteten Ladungsdichteschwankungen nicht vorliegen. „Wir haben damit eine große Klasse von Erklärungsmodellen ausgeschlossen“, sagt Wahl. „Es bleiben relativ wenige Erklärungsmöglichkeiten innerhalb der bestehenden Festkörpertheorie übrig“, sagt der Physiker. Er wertet das Ergebnis deshalb als Hinweis, dass die Festkörpertheorie erweitert werden muss, um die versteckte Ordnung zu erklären. Auch andere ungewöhnliche Phänomene in Schwerfermionen-Materialien seien vermutlich nur mit einer erweiterten Theorie erklärbar. „Es handelt sich um eine der spannendsten Fragen der Festkörperphysik“, sagt Wahl.
Um sie zu beantworten, hat Wahl am Max-Planck-Institut in Stuttgart zwei Rastertunnelmikroskope aufgebaut, die vergleichbare Möglichkeiten wie das an der Cornell-University bieten. Mit seiner vierköpfigen Forschergruppe will er in den nächsten Jahren Schwerfermionen-Materialien sowie andere so genannte stark korrelierte Elektronenmaterialien eingehend untersuchen. Dabei handelt es sich um Materialien, deren Elektronen besonders stark miteinander wechselwirken.
Wie funktioniert Hochtemperatur-Supraleitung?
Die Ergebnisse könnten in der Fachwelt auf großes Interesse stoßen, nicht nur wegen der grundlegenden festkörpertheoretischen Fragen. Denn: „Schwerfermionen-Materialien ähneln Hochtemperatur-Supraleitern“, sagt Wahl. „Wenn wir sie verstehen, können wir vielleicht auch verstehen, wie die Hochtemperatur-Supraleitung funktioniert.“ Physiker hoffen, dass eine theoretische Erklärung der Hochtemperatur-Supraleitung zu Materialien führen könnte, die Strom bei normalen Umgebungstemperaturen ohne Widerstand leiten.
(MPG, 16.06.2010 – DLO)