Biologie

Überraschungen in mittelatlantischer Tiefsee

Neue Funde revolutionieren Vorstellungen über die Lebenswelt in der Tiefe des Atlantiks

Wurm aus dem Nordatlantik © David Shale

Quasi im Endspurt des seit zehn Jahren laufenden „Census of marine Life“ haben Wissenschaftler in der Tiefsee des Atlantiks erneut bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Sie stießen unter anderem auf bisher unbekannte Arten eines Wurms, der als Zwischenform in der Evolution von Wirbellosen zu Wirbeltieren gilt. Gleichzeitig beendeten sie die detaillierteste Videokartierung der Tiefsee, die jemals durchgeführt worden ist.

Im Rahmen des internationalen Langzeitprojekts „Census of marine Life” – einer Art Volkszählung der Meere – sind Wissenschaftler von einer sechswöchigen Expedition an Bord des Forschungsschiffs RRS James Cook zurückgekehrt, die wieder einmal viele bisherige Vorstellungen über die Tiefsee und ihre Bewohner über den Haufen geworfen hat. Das aus Forschern aus 16 Ländern zusammengesetzte Team erkundete den Meeresgrund beiderseits des Mittelatlantischen Rückens in einem Gebiet zwischen Island und den Azoren. In insgesamt mehr als 300 Stunden Tauchzeit förderte der ferngesteuerte Tauchroboter Isis dabei Proben, Daten, Videoaufnahmen und Bilder aus 700 bis 3.600 Metern Tiefe ans Tageslicht.

Gegensätzliche Zwillinge

Schon die ersten Untersuchungen enthüllten, wie verschieden die Lebenswelt beiderseits des gewaltigen unterseeischen Gebirgsrückens ist: „Das Terrain sah gleich aus, Westhang und Osthang glichen sich wie Spiegelbilder“, erklärt Monty Priede, Leiter des Ozeanlabors der Universität von Aberdeen. „Aber da endet die Ähnlichkeit auch schon. Wir waren überrascht, wie verschieden die Tierwelten auf beiden Seiten des Rückens waren – nur 16 Kilometer voneinander entfernt.“ Die Osthänge waren farbenfroh und vielgestaltig besiedelt, mit Schwämmen, Kaltwasserkorallen und anderem Leben. Die flachen Ebenen davor wurden von Seeigeln dominiert. Im Westen dagegen herrschte vergleichsweise graue Ödnis: vorwiegend kahles Gestein, kaum Leben.

„Die Unterschiede, die wir in der Vielfalt und Häufigkeit der Individuen sehen, könnten damit zusammenhängen, wie gut sie die mageren Nahrungsressourcen verwerten und verteilen können“, erklärt Ben Wigham von der Universität Newcastle. „Da sehen wir durchaus Unterschiede zwischen den beiden Bereichen des Rückens.“

Bindeglied der Evolution aufgespürt

Doch ausgerechnet dort, wo scheinbare Ödnis herrschte, stießen die Forscher auf eine der Sensationen ihrer Tour: Im nordwestlichen Bereich des Untersuchungsgebiets entdeckten sie Enteropneusten, Würmer, die als Bindeglied zwischen den wirbellosen und den Wirbeltieren gelten. Die zur Gruppe der Hemichordaten gehörenden Tiere besitzen eine Art Skelettstab, der als Vorläufer der Chorda dorsalis und damit der Wirbelsäule interpretiert werden kann.

„Sie haben keine Augen, weder offensichtliche Sinnesorgane noch Gehirne, aber es gibt ein Kopfende, einen Schwanz und den grundlegenden Körperbau der Wirbeltiere“, erklärt Priede. „Diese Würmer stehen dem Missing link in der Evolution von wirbellosen zu Wirbeltieren sehr nahe. Bisher waren der Wissenschaft aber nur ein paar Exemplare aus dem Pazifik bekannt. Doch am Ende unserer Expedition hatten wir bereits drei unterschiedliche Arten entdeckt, jede in einer anderen Farbe – pink, weinrot und weiß – und in deutlich verschiedenen Formen.“ Mit Hilfe des ferngesteuerten Tauchroboters gelang es den Forschern, vollständige Exemplare aller drei Arten einzufangen und zu konservieren, damit sie von Spezialisten untersucht werden können.

Überraschende Vielfalt in der Tiefe

Neben den Enteropneusten entdeckten die Wissenschaftler auch zahlreiche weitere Arten, die bisher als extrem selten galten. „Wir waren überrascht, dass Arten, die anderswo als sehr selten gelten, am Mittelatlantischen Rücken so häufig waren“, erklärt Andrey Gebruk vom Shirshov Institut in Moskau. „Noch bis zur letzen Minute unserer Tauchgänge haben wir neue Arten entdeckt.“ Insgesamt zehn neue Arten waren es am Ende immerhin und zahllose weitere Spezies, die in ungewöhnlicher Zahl vorhanden waren oder aber auch ungewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag legten.

Seegurken als Meisterschwimmer

So gelten Seegurken normalerweise nicht gerade als Bewegungskünstler: Wenn sie nicht einfach nur herumliegen, kriechen sie höchstens langsam über die flachen Ebenen der Tiefsee. Ganz anders jedoch am Hang des Mittelatlantischen Rückens: Hier fanden die Wissenschaftler die Weichtiere an steilen Hängen klebend, auf winzigen Feldabsätzen balancierend und überhaupt auf nahezu jeder verfügbaren Fläche. Die Seegurken entpuppten sich zudem als überraschend fähige und schnelle Schwimmer, deren Bewegungen in einzigartigen Videosequenzen festgehalten werden konnten.

„Diese Expedition hat unsere Vorstellungen über das Leben in der Tiefe des Atlantischen Ozeans revolutioniert“, so Priede. „Es zeigt uns, dass es nicht reicht, das zu erforschen, was an den Rändern des Meeres lebt und den großen Rest der Tiere, die in den Hängen und Tälern in der Ozeanmitte leben, zu ignorieren. Mit neuen Technologien und präziser Navigation können wir diese Regionen jetzt erkunden und dort Dinge entdecken, von denen wir nie geahnt hätten, dass sie existieren.“

(Census of Marine Life, 09.07.2010 – NPO)

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