Doch wie verlässlich ist ein solches Muster? Bringen schon kleine Änderungen im neuronalen Gesprächsablauf ein völlig anderes Muster hervor? So als würde ein einziger veränderter Wortbeitrag in einer Diskussion dem Gespräch eine völlig andere Wendung geben? Ein solches Verhalten bezeichnen Wissenschaftler als chaotisch. Die dynamischen Prozesse im Gehirn wären in diesem Fall nicht lange vorhersagbar. Zudem ginge die Information, die im Aktivitätsmuster gespeichert ist, durch kleine Fehler nach und nach verloren.
Im Gegensatz dazu wäre eine so genannte stabile, nicht chaotische Dynamik weit weniger fehleranfällig. Das Verhalten einzelner Neuronen würde dann das Gesamtbild aber auch kaum beeinflussen.
Prozesse in der Großhirnrinde chaotisch
Die neuen Ergebnisse der Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS), der Universität Göttingen und des Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen offenbaren nun die Prozesse in der Großhirnrinde, der Hauptschaltzentrale des Gehirns, als äußerst chaotisch.
Dabei war es entscheidend, dass die Forscher erstmals ein realistisches Modell der Neuronen in ihren Rechnungen annahmen. Trifft ein Spike an einem Neuron ein, baut sich eine zusätzliche elektrische Spannung an seiner Zellwand auf. Erst wenn diese Spannung einen kritischen Wert überschreitet, wird das Neuron aktiv.
Stabile oder völlig instabile Dynamik?
„Dieser Vorgang ist sehr wichtig“, sagt Professor Fred Wolf vom MPIDS. „Denn nur so lässt sich die Unsicherheit, zu welchem Zeitpunkt ein Neuron aktiv wird, in der Berechnungen exakt nachvollziehen.“ Ältere Modelle hatten die Neuronen stark vereinfacht beschrieben und nicht berücksichtigt, genau wie und unter welchen Voraussetzungen ein Spike entsteht.
„Daraus ergab sich in manchen Fällen eine stabile, in anderen eine völlig instabile Dynamik“, erklärt Michael Monteforte vom MPIDS. Die lange bestehende Uneinigkeit, ob die Prozesse in der Großhirnrinde chaotisch sind oder nicht, ließ sich so nicht klären.
Mit ihrem differenzierteren Ansatz konnten die Göttinger nun erstmals berechnen, wie schnell ein Aktivitätsmuster durch winzige Veränderungen verloren geht, also sozusagen vergessen wird. Ergebnis: In etwa verschwindet pro Sekunde und Neuron ein Bit an Information.

Michael Monteforte und Professor Fred Wolf diskutieren ihre Ergebnisse. © MPIDS
Überraschend hohe Auslöschungsgeschwindigkeit
„Diese außerordentlich hohe Auslöschungsgeschwindigkeit hat uns sehr überrascht“, sagt Wolf. Denn offenbar geht im Gehirn Information etwa so schnell verloren, wie sie maximal aus den Sinnen „zugeliefert“ werden kann. Dies hat fundamentale Konsequenzen für unser Verständnis des neuronalen Kodes der Großhirnrinde.
Durch die hohe Auslöschungsgeschwindigkeit kann Information über sensorische Eingangssignale nur für wenige Spikes aufrechterhalten werden. Die neuen Ergebnisse deuten daher darauf hin, dass die Dynamik in der Großhirnrinde besonders auf die Verarbeitung kurzer Schnappschüsse der Außenwelt zugeschnitten ist.
(Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, 20.01.2011 – DLO)
20. Januar 2011