Wie lange kann ein Verschütteter unter einer Lawine überleben? Für die Alpen galt bisher immer ein Wert von durchschnittlich 18 Minuten. Eine neue Studie zeigt nun, dass dieser Wert nicht allgemeingültig ist, sondern regional unterschiedlich: In Kanada ist die Überlebensphase nur gut halb so lang – unter anderem, weil das maritime Klima dort den Schnee dichter macht und damit die Erstickungsgefahr erhöht.
Vor rund zehn Jahren veröffentlichte der Südtiroler Lawinenexperte Hermann Brugger – heute Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin an der Europäischen Akademie Bozen – gemeinsam mit Kollegen eine Studie zur Überlebenschance bei Lawinenverschüttung. Sie hatten Schweizer Daten zu Lawinenunfällen gesammelt und herausgefunden, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit von Verschütteten bis rund 18 Minuten über 90 Prozent beträgt. Die Ergebnisse der Studie hatten damals große Auswirkungen auf das Verhalten von Skitourengehern, auf das alpine Rettungswesen, auf die Herstellung von Rettungsgeräten und auf die Logistik bei der Bergung und Behandlung von Lawinenopfern.
Überlebensphase in Kanada zehn Minuten kürzer
Doch inwieweit gelten diese Erkenntnisse auch für Bergregionen außerhalb der Alpen? Ein Forscherteam aus Südtirol, der Schweiz und Kanada hat dazu in einer gemeinsamen Studie Daten über Lawinenunfälle aus der Schweiz und Kanada neu erhoben und miteinander verglichen. Das überraschende Ergebnis: Die so genannte Überlebensphase ist in Kanada mit rund zehn Minuten nur etwa halb so lang wie in der Schweiz. Wie aber lassen sich diese großen Unterschiede erklären?
Maritimes Klima macht Schnee dichter
Das weitere Vorgehen des Forscherteams gelang aufgrund einer neu entwickelten statistischen Methode. Nach Ausschluss mehrerer Vermutungen zeigte es sich, dass, abgesehen von einer höheren Verletzungsrate in Kanada, vor allem das Klima ein ausschlaggebender Faktor ist für die Überlebenswahrscheinlichkeit unter Lawinen: Im maritimen Klima am pazifischen Küstenstreifen östlich von Vancouver beeinflusst die feuchte Meeresluft die Konsistenz und Dichte des Schnees derart, dass Verschüttete dort schneller ersticken als unter dem Schnee im trockenen, kalten und kontinentalen kanadischen Klima, das auch dem Klima der europäischen Alpen ähnlich ist.
Weniger Langzeitüberlebende in Kanada
Eine weitere Erkenntnis der Studie betrifft die Anzahl der Langzeitüberlebenden, also jener Lawinenopfer, die trotz ihrer vollständigen Verschüttung keine lebensgefährlichen Verletzungen davontragen und überleben. Ihre Anzahl ist in Kanada im Vergleich deutlich niedriger. Zurückzuführen ist dies auf die großen Entfernungen, die Unzugänglichkeit der kanadischen Bergregionen und die damit verbundenen Schwierigkeiten in der medizinischen Versorgung von Lawinenopfern.
„Die Studie hat deutlich gemacht, dass den kanadischen Rettungsteams im Vergleich viel weniger Zeit bleibt, um Lawinenverschüttete lebend zu bergen und sie daher in punkto Schnelligkeit und Effizienz extrem gefordert sind“, fasst Hermann Brugger zusammen. (Canadian Medical Association Journal, 2011, CMAJ 10.1503/cmaj.101435)
(European Academy of Bozen/Bolzano, 23.03.2011 – NPO)