Viele Tier- und Pflanzenarten kommen mit dem Klimawandel allein gut zurecht, doch häufig potenziert sich die negative Wirkung durch das Zusammenspiel weiterer ökologischer Faktoren. Das komplizierte Geflecht von Wechselwirkungen innerhalb eines Ökosystems kann daher schon kleine Umweltveränderungen innerhalb kurzer Zeit zu drastischen Folgen verstärken. Das zeigt eine internationale Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift „Advances in Marine Biology“ erschienen ist.
Tiere und Pflanzen in Küstengebieten sind hart im Nehmen. Die Bewohner der flachen Ostsee beispielsweise müssen mit stark schwankenden Temperaturen, einem veränderlichen Salzgehalt und
sogar mit kurzfristigen Sprüngen des pH-Wertes zurechtkommen. „Diese natürlichen Veränderungen können innerhalb weniger Wochen größer sein, als die in Folge des Klimawandels für die kommenden
100 Jahre vorhergesagten mittleren Verschiebungen“, erklärt der Kieler Meeresbiologe Professor Martin Wahl vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR). Sind die Folgen des Klimawandels für Küstenökosysteme demnach zu vernachlässigen?
Suche nach Ursache für Rückgang des Blasentangs
Diese Frage haben Wissenschaftler des IFM-GEOMAR zusammen mit 14 weiteren europäischen und amerikanischen Autoren in einer Studie untersucht und beantworten sie eindeutig mit „Nein“. „Auch kleinste Abweichungen von den Durchschnittswerten in einem Ökosystem können durch ökologische Verstärkung große Folgen haben“, so Wahl, „in Einzelfällen können verschiedene Stressoren einander aber auch abpuffern.“
Die oft überraschenden Wechselwirkungen zwischen Belastungen durch ungünstige Umweltbedingungen wie die Erwärmung einerseits und durch Fressfeinde oder Parasiten andererseits, analysierten die beteiligten Forscher anhand der Stressökologie von Großalgen. Eine davon, der Blasentang Fucus vesiculosus, kommt an den Küsten der Nord- und Ostsee, aber auch des Atlantiks und des Pazifiks vor und spielt dort in den Ökosystemen des Flachwassers eine Schlüsselrolle. Doch obwohl beispielsweise die Blasentang-Populationen der Ostsee einiges gewohnt sein sollten, hat sich der Bestand des Tangs in den vergangenen Jahrzehnten deutlich reduziert. „Eigentlich kann er in Wassertiefen zwischen null und sechs Metern gut leben. Mittlerweile findet man ihn in der Westlichen Ostsee aber nur noch bis ein oder zwei Meter Wassertiefe“, erläutert Wahl.
Kaskade an Wirkungen und Wechselwirkungen
Diese Veränderung kann nicht nur mit den direkten Effekten des globalen Wandels, welcher auch Überdüngung und Bioinvasionen einschließt, erklärt werden. Um sie trotzdem zu verstehen,
haben die Autoren der Studie aufbauend auf existierenden Einzelstudien zahlreiche Daten rund um den Blasentang zusammengetragen: Sie haben unter anderem sein Verbreitungsgebiet, seine Licht- und Nährstoffversorgung, Fressfeinde, seine Abwehrsysteme, seine Reaktionen auf Umweltbelastungen oder auch die genetische Vielfalt einzelner Populationen betrachtet.
„Wir haben wirklich alle Gebiete, zu denen es schon Erkenntnisse gab, in die Studie einfließen lassen“, sagt Wahl, „und so konnten wir eine wahre Kaskade an Wirkungen und Wechselwirkungen aufzeigen, die auf einzelne Algen oder auf ganze Populationen einwirken.“ Ein Beispiel: Bei nur leicht steigenden durchschnittstemperaturen steigt die Beschattung durch Plankton und Aufwuchs – der Blasentang bekommt also weniger Licht. Das lässt seine Energiereserven schmelzen, was wiederum seine Abwehr gegen Krankheitserreger und Fraßfeinde schwächt – was dadurch verstärkt wird, dass unter höheren Temperaturen das Infektionsrisiko steigt und Fraßfeinde hungriger sind.
Reduzieren Fressfeinde die Blattfläche, mit der die Alge Photosynthese betreiben kann, verstärkt sich der Energiemangel weiter – eine typische Verstärkerschleife. „Die Liste der möglichen Verstärkungen und Wechselwirkungen ist lang und komplex“, erklärt Wahl. Um sie besser zu verstehen und vermitteln zu können, wird die Stressökologie der Makroalgen zurzeit modelliert.
Die Ergebnisse der Studie sind beispielhaft für Ökosysteme in Küsten- und Schelfmeergebieten der gemäßigten Breiten. „Kaum eine Art wird an einer einzelnen Auswirkung des Klimawandels zugrunde gehen“, resümiert Wahl die bisherigen Erkenntnisse, „trotzdem können wir seine Folgen nicht weglächeln.“ Der Forscher hofft auf eine veränderte Wahrnehmung, „denn der Schneeballeffekt, den die ökologische Verstärkung hervorrufen kann, ist noch viel zu wenig erforscht.“ (Advances in Marine Biology, 2011; doi: 10.1016/B978-0-12-385536-7.00002-9)
(Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, 27.04.2011 – NPO)