Bisher galt das Umkippen eines Ökosystems als unvorhersehbar. Jetzt aber haben Forscher erstmals eindeutige Frühwarnzeichen eines solchen radikalen Wechsels in einem Freilandökosystem identifiziert. Wie sie in „Science“ berichten, ließen sich verräterische Fluktuationen zukünftig ähnlich wie in Wirtschaft oder Medizin frühzeitig durch Frühwarnmodelle erfassen und könnten so rechtzeitige Gegenmaßnahmen ermöglichen.
Ökosysteme verändern sich oft auf radikale Weise: Seen, Wälder, Steppen, Korallenriffe und viele andere Systeme werden durch Faktoren wie Überfischung, Schädlinge, chemische Veränderungen in der Umwelt oder Klimaschwankungen transformiert. Sie passen sich an oder werden sogar zerstört. Für Mensch und Wirtschaft kann ein solches „Umkippen“ eines Ökosystems dramatische Folgen haben, wenn es sich beispielsweise um eine wichtige Nahrungsressource handelt. So kollabierten in den 1990er Jahren die nordatlantischen Bestände des Kabeljaus durch Überfischung und sorgten für ein großes „Fischersterben“ in Neuengland und Kanada.
Die Fähigkeit, solche Kollapse vorherzusagen, könnte die gravierenden Folgen vermeiden helfen und rechtzeitige Schutz- und Vermeidungsmaßnahmen ermöglichen. Dass dies entgegen bisheriger Ansicht tatsächlich geht, hat jetzt ein Forscherteam unter Leitung von Stephen Carpenter von der Universität von Wisconsin-Madison belegt. „Lange Zeit dachten Ökologen, dass diese Veränderungen nicht vorhergesagt werden können“, erklärt Carpenter. „Aber wir haben gezeigt, dass sie sehr wohl vorhersehbar sind. Die Frühwarnzeichen sind klar. Es ist ein starkes Signal.“
Raubfische als Störfaktoren im See-Ökosystem
In ihrer Studie untersuchten die Forscher zwei isolierte und bisher unberührte Seen im Norden Wisconsins. Der eine, Peter Lake, wurde manipuliert um seine Nahrungsketten und damit das Ökosystem zu stören. Die Forscher setzten im Laufe von drei Jahren nach und nach immer mehr räuberische Flussbarsche in den Peter Lake ein, der zuvor durch viele kleinere, Wasserfloh fressende Fischarten dominiert worden war. Der zweite See, Paul Lake, wurde in Ruhe gelassen und diente als Kontrolle. Während der gesamten Zeit überwachten die Wissenschaftler kontinuierlich alle chemischen, biologischen und physikalischen Parameter, um selbst die kleinsten Veränderungen und Anzeichen für einen so genannten „Regimewechsel“ im Ökosystem erfassen zu können – einem rapiden und umfassenden Wechsel von einem Gleichgewicht zu einem neuen.
„Wir begannen damit, diese großen, angriffslustigen Fische hinzuzugeben und fast sofort reagierten die anderen Fische darauf“, erklärt Carpenter. „Die kleineren Fische spürten, dass sich hier Ärger anbahnt und schwammen nicht mehr ins offene Wasser hinaus. Stattdessen hingen sie in Ufernähe und im Schutz von Objekten wie gesunkenen Baumstämmen herum. Sie vermieden jedes Risiko.“ Als Folge davon konnten sich die Wasserflöhe nun nahezu ungehindert tummeln, der See wurde zum „Wasserfloh-Paradies“. Das wiederum führte dazu, dass der Druck auf die Algen im Gewässer zunahm und sich hier plötzlich eine neue Vielfalt und ein Schwanken von Arten und Populationsdichten zu zeigen begann.
Fluktuationen als Vorzeichen für Regimewechsel
Genau diese Fluktuationen, das zeigten die Auswertungen der Daten, sind ein wichtiges Vorzeichen für ein Umkippen eines Ökosystems. Diese Erkenntnis bedeutet, dass Modelle, die für die Prognose katastrophaler Veränderungen in Wirtschaft oder Medizin eingesetzt werden, auch für ökologische System Gültigkeit haben. Einem Börsencrash, einem epileptischen Anfall oder dem Umbruch eines Ökosystems gehen feine, aber messbare Erhöhungen in der Variabilität bestimmter Faktoren voraus – Schwankungen des Dow Jones, verräterische Fluktuationen in den EEG-Wellen der Hirnaktivität oder, im Falle des Peter Lake, Schwankungen im Chlorophyllgehalt.
Nach Ansicht von Carpenter belegt die Studie damit, dass es ein statistisches Frühwarnsystem für den Kollaps von Ökosystemen gibt. „Mit etwas mehr Forschung könnte dies das Management von Ökosystemen revolutionieren“, so Carpenter. „Das Konzept ist jetzt in einem Feldexperiment validiert und die Tatsache, dass es in diesem See funktioniert hat, öffnet den Weg zu weiteren Tests in Weideland, Wäldern und marinen Ökosystemen.“
Der Haken daran ist allerdings, dass dafür eine intensive und ständige Überwachung der chemischen, physikalischen und biologischen Parameter nötig ist. Daher sei dieser Ansatz nicht unbedingt für jedes bedrohte Ökosystem sinnvoll und machbar, andererseits hätte das Nichtstun einen hohen Preis: „Diese Regimewechsel sind schwer umzukehren. Es ist wie eine einmal in Fahrt geratene Lawine – einmal in Gang sind die Folgekosten – wirtschaftlich und ökologisch – sehr hoch.“ (Science, 2011; doi: 10.1126/science.1203672)
(University of Wisconsin-Madison, 29.04.2011 – NPO)