Neurobiologie

Lernen funktioniert auch ohne Training

Visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit durch passive Stimulation veränderbar

Dass das menschliche Gehirn ohne aktives Training visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit verbessern kann, haben jetzt Bochumer und Dortmunder Neurowissenschaftler in einer neuen Studie herausgefunden. In der Fachzeitschrift „Current Biology“ berichten sie, dass die Leistung des menschlichen Sehsinns nachhaltig verändert werden kann, indem man Testpersonen lediglich für kurze Zeit wiederholt bestimmte visuelle Reize präsentiert.

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Die Frequenz der Reizdarbietung legt dabei fest, ob sich Wahrnehmung und Aufmerksamkeit verbessern oder verschlechtern. Was bisher nur aus Tierstudien bekannt war, belegen die Neurowissenschaftler somit erstmals auch für Menschen.

„Die Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven in der Intervention und Therapie von visuellen Wahrnehmungsstörungen, da die ausgelösten Veränderungen dauerhaft und einfach herbeizuführen sind“, so Christian Beste von der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der zusammen mit Bochumer Kollegen und Wissenschaftlern des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung der Technischen Universität (TU) Dortmund an der neuen Studie beteiligt war.

Abseits des Königswegs

„Der Königsweg, Verhalten und Wahrnehmung nachhaltig zu ändern, ist andauerndes Training, das das Gehirn intensiv stimuliert“, erklärt Hubert Dinse vom Institut für Neuroinformatik der RUB. „Beim Lernen durch passive Stimulation wird das Training durch eine Reizdarbietung mit speziell angepasstem zeitlichen Ablauf ersetzt.“

Wie die Forscher zeigten, verschlechtert sich die visuelle Wahrnehmung nach einer langsamen und kontinuierlichen Stimulation des Sehsinns, wohingegen eine schnelle Stimulation zu besserer Wahrnehmung führt. „Auf diese Weise können wir durch einfache Auswahl der Stimulationsfrequenz die Richtung von Lernprozessen bestimmen“, fasst Dinse zusammen. Die Effekte der Stimulation waren nach zehn Tagen noch unverändert nachzuweisen.

Vom Tiermodell zum Menschen

Aus Tierversuchen ist bekannt, dass man Nervenzellen mit einer bestimmten Frequenz elektrisch reizen muss, um die Stärke der Verbindungen zwischen den Zellen zu verändern. Eine Änderung der Verbindungsstärken, auch Plastizität genannt, wird im Gehirn normalerweise durch längeres Training ausgelöst. Wie die Ergebnisse der Bochumer und Dortmunder Forscher jedoch nahelegen, können gezielte Veränderungen der menschlichen visuellen Wahrnehmung schon nach 40-minütiger Stimulation eintreten, ohne dass aktives Training erforderlich ist.

Reize stärker oder schwächer machen

„Ob ein Sinneseindruck Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, hängt von seiner Stärke ab“, so Beste. Einigen Modellen zufolge treten unterschiedliche Sinneseindrücke miteinander in Wettstreit und nur die stärksten beeinflussen unser Verhalten. Mittels passiver visueller Stimulation können Reize, abhängig von der Frequenz, geschwächt oder gestärkt werden und so den Aufmerksamkeitsprozess verändern. (Current Biology, 2011; doi:10.1016/j.cub.2011.03.065)

(Ruhr-Universität Bochum, 06.05.2011 – DLO)

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