Genetik

Menschliche Mutationsrate geringer als gedacht

Anzahl der Keimzellmutationen variiert zwischen Eltern und Familien

Geschätzte Anzahl an Neumutationen in zwei Familien (Vater = orange; Mutter = grün) © The Sanger Centre

Mit den Genen unserer Eltern erben wir immer auch Mutationen, die in deren Spermien und Eizellen neu entstanden sind. Diese Neumutationen haben jetzt für einige Überraschung gesorgt: Sie sind weniger häufig, dafür aber ganz anders verteilt als bisher angenommen, berichten Forscher in „Nature Genetics“. Statt vorwiegend vom Vater zu kommen, schwankt der Anteil väterlicher oder mütterlicher Genveränderungen zwischen Familien, vielleicht sogar zwischen einzelnen Kindern. Auswirkungen haben die neuen Erkenntnisse auch für die Evolutionsforschung und die Konstruktion genetischer Stammbäume.

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Unsere Gene erben wir von unseren Eltern, dennoch sind wir keine einfachen Kopien oder Mischungen ihrer Eigenschaften. Unsere Individualität und auch ganz neue Merkmale entstehen erst dadurch, dass die elterlichen Gene in uns neu kombiniert werden. Eine wichtige Rolle spielen aber auch Genveränderungen, beispielsweise durch Kopierfehler, die sich in den Keimzellen der Eltern ereignen und dann an uns weitergegeben werden. Solche Mutationen ausfindig zu machen ist extrem schwierig, da pro Generation im Durchschnitt jeweils nur ein Genbuchstabe von 100 Millionen mutiert.

Suche nach Neumutationen im Genom zweier Einkind-Familien

Bisherige Studien dazu ermittelten die Mutationsraten daher nur gemittelt über mehrere Generationen hinweg oder für beide Geschlechter gemeinsam. Wie viele Neu-Mutationen tatsächlich von jedem Elternteil auf ihr Kind übergehen, ließ sich damit nicht feststellen. Ein internationales Forscherteam hat genau dies nun erstmals gezielt untersucht. Für ihre Studie nutzten sie die kompletten DNA-Sequenzen von zwei Familien mit jeweils einem Kind, die im Rahmen des 1.000-Genome Projekts entschlüsselt und dann katalogisiert worden waren.

Im Erbgut der Kinder suchten die Wissenschaftler dann gezielt nach Mutationen, die bei deren Eltern noch nicht vorhanden waren. Diese Genveränderungen mussten folglich entweder in den Keimzellen der Eltern oder aber während der Lebenszeit der Kinder entstanden sein. Von diesen rund 6.000 potenziellen Kandidaten entpuppten sich 49 Mutationen in der einen und 35 in der anderen Familie als bei der Spermien- oder Eizellenproduktion entstanden und dann aufs Kind übertragen. Solche Keimzellveränderungen gelten als eine der treibenden Kräfte der Evolution, bisher hatte man ihre Zahl jedoch als deutlich höher eingeschätzt.

Mutationsgetriebene Evolution langsamer als gedacht

„Wir hatten zuvor geschätzt, dass die Eltern rund 100 bis 200 Kopierfehler mit ihrem Erbgut an die Kinder weitergeben“, erklärt Philip Awadalla von der Universität von Montreal. Unsere Genstudie, die erste ihrer Art, hat nun gezeigt, dass tatsächlich viel weniger Mutationen auftreten. Im Prinzip bedeutet dies, dass die Evolution ein Drittel langsamer verläuft als bisher gedacht.“ Da Mutationsraten in der Evolutionsforschung eine Basis für genetische Stammbäume und besonders den Zeitpunkt der Abspaltung von Arten sind, müssen auch sie nun überprüft werden. Beispielsweise die Angabe über die Anzahl der Generationen, die uns Menschen von unseren nächsten Verwandten trennt, könnte nun erneut revidiert werden müssen.

Anteil der väterlichen Mutationen komplett unterschiedlich

Die Studie brachte aber noch eine weitere Überraschung: Der Anteil der Mutationen, die das Kind jeweils von Vater oder Mutter erhalten hatte, variierte zwischen den Familien extrem stark: Während in einem Falle 92 Prozent der Genveränderungen vom Vater stammten, waren es in der zweiten Familie nur 36 Prozent, hier kam der Großteil der Mutationen von der Mutter. Dieses Ergebnis kam für die Genetiker absolut unerwartet, da es gängigen annahmen absolut widerspricht:

„Wir Humangenetiker haben immer vermutet, dass sich die Mutationsraten zwischen den Geschlechtern oder zwischen Individuen unterscheiden“, erklärt Matt Hurles, Gruppenleiter am Wellcome Trust Sanger Institute. „Viele Leute haben aber erwartet, dass generell die Väter mehr Mutationen weitergeben, wegen der zusätzlichen Anzahl von Kopiervorgängen, die für die Produktion eines Spermiums gegenüber einer Eizelle nötig ist. Jetzt wissen wir, das in einigen Familien die meisten Mutationen von der Mutter, in anderen aber vom Vater stammen.“

Variation pro Familie oder pro Kind?

Warum das so ist, und ob sich dies auch von Kind zu Kind innerhalb einer Familie ändert, ist bisher unklar. „Die Anzahl der Neumutationen in den Keimzellen könnte entweder beim gleichen Individuum von Fall zu Fall variieren oder aber die Schwankungen bestehen zwischen den Individuen“, schreiben die Forscher in ihrem Artikel. „Mit nur einem Kind pro Familie konnten wir zwischen diesen Alternativen nicht entscheiden. Jede von ihnen aber würde dafür sorgen, dass es große Schwankungen in der Menge der Neumutationen bei Kindern verschiedener Familien gibt.“

Möglich und nicht unwahrscheinlich wäre auch, dass das Alter der Eltern bei der Zeugung des Kindes eine wichtige Rolle für die Menge der weitergegebenen Mutationen spielt. Auch dies war bei den untersuchten Familien nicht festgehalten worden. Mit den neuen Technologie und Algorithmen hoffen die Forscher aber, bald auch diese Fragen beantworten zu können. Als nächsten wollen sie weitere Familien – dann auch solche mit mehreren Kindern – auf ihre Genome und Mutationen hin untersuchen. (Nature Genetics, 2011; DOI: 10.1038/ng.862)

(The Sanger Centre, 16.06.2011 – NPO)

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