Neurobiologie

Chinesische Kinder verlernen das Lesen

Digitale Lernmethoden erschweren das Erlernen der komplexen Schriftzeichen

Chinesische Schriftzeichen © SXC

Die chinesische Schrift existiert seit mehr als 3.000 Jahren. Doch die jüngste Generation von Chinesen hat immer mehr Probleme, die komplexen Zeichen zu entziffern. Schuld daran sind neue, digitale Lernmethoden, die an vielen Schulen das traditionelle Nachmalen der Schriftzeichen mit der Hand verdrängt haben. Das berichten Forscher der Universität von Hongkong im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.

In den im Rahmen der Studie durchgeführten Tests hatten ein Drittel bis über die Hälfte der rund 6.000 getesteten Schulkinder der dritten bis fünften Klasse schwerwiegende Leseschwierigkeiten. Das sei weit mehr als jemals zuvor festgestellt, sagen Li Hai Tan und seine Kollegen. Mitte der 1990er Jahre habe der Anteil von Kindern mit Leseproblemen nur zwischen 1,9 und 7,9 Prozent gelegen.

Computer statt Handschrift

Den Hauptgrund für die zunehmende Leseschwäche der Kinder sehen die Forscher in der auf Computern basierenden sogenannten Pinyin-Lernmethode an Chinas Schulen. Dabei tippen die Schüler auf einer lateinischen Tastatur den Laut des gewünschten Worts ein – beispielsweise „li“ für Birne – und erhalten dann eine Auswahl chinesischer Schriftzeichen, die „li“ ausgesprochen werden. Aus diesen suchen sie dann das korrekte Zeichen aus.

„Durch diese Technik lernen die Kinder nicht mehr, die grafischen Formen, aus denen die komplexen Zeichen zusammengesetzt sind, zu schreiben und so visuell-räumlich zu analysieren“, sagen Li und seine Kollegen. Um den Kindern das Lesenlernen zu erleichtern, mussten sie früher jedes Zeichen wiederholt abzeichnen. Auf diese Weise sei die Verknüpfung der Formen mit der Bedeutung des Schriftzeichens im Gedächtnis der Kinder verankert worden. Die zunehmend an Schulen eingesetzte Pinyin-Methode leiste dies offenbar nicht in ausreichendem Maße, sagen die Forscher.

300 Schriftzeichen als Lesetest

Für ihre Studie hatten Li und seine Kollegen Lesetests mit insgesamt knapp 6.000 Kindern der vierten und fünften Klassen durchgeführt. Die Kinder mussten dabei jeweils 300 Schriftzeichen, ausgewählt aus Schulbüchern ihrer Altersstufe, laut vorlesen. Trotz gleicher allgemeiner Intelligenz schnitten die Schulkinder, die am häufigsten mit Computerhilfe gelernt hatten, in den Lesetests durchgehend am schlechtesten ab – und dies sowohl in Ballungsräumen wie Peking und Guangzhou als auch in ländlicheren Gebieten.

„Die Ergebnisse zeigen einen klaren negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung der Pinyin-Methode und den Leseproblemen der Kinder“, sagen die Wissenschaftler. Die chinesische Schrift habe zwar bisher die technologischen Herausforderungen des digitalen Zeitalters überstanden. Jetzt aber zeige sich, dass die computergestützte Kommunikation auch eine Schattenseite habe: Sie störe offenbar ein effektives Lernen der Jahrtausende alten Schrift. (PNAS, doi: 10.1073/pnas.1213586110)

(PNAS, 02.01.2013 – NPO)

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

News des Tages

Diaschauen zum Thema

Dossiers zum Thema

Bücher zum Thema

Im Fokus: Neurowissen - Träumen, Denken, Fühlen - Rätsel Gehirn von Nadja Podbregar und Dieter Lohmann

Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn - von Vilaynur S. Ramachandran

Die blinde Frau, die sehen kann - Rätselhafte Phänomene unseres Bewußtseins von Vilaynur S. Ramachandran und Sandra Blakeslee

Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens von Manfred Spitzer

Top-Clicks der Woche