Sie hatten bereits im Jahr 2006 in einer Überblicksstudie aufgezeigt, dass fünf Umweltgifte, darunter Blei, Quecksilber, Arsen, polychorierte Biphenyle und das Lösungsmittel Toluol, messbare Auswirkungen auf die Hirnentwicklung von Kindern haben. Dies äußert sich in einem verringerten Hirnvolumen, Defiziten in der geistigen Leistung aber auch in Problemen im Sozialverhalten und motorischen Störungen.
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Hyperaktivität und geistige Defizite
Für ihre aktuelle Review haben Grandjean und Landrigan nun neuere Studien zu den neurologischen Auswirkungen von Chemikalien in ihre Auswertungen einbezogen – und Belege für sechs weitere Chemikalien entdeckt, die die Hirnentwicklung von Kindern nachweislich schädigen. So liefern Studien in Kanada und Bangladesch Hinweise darauf, dass Mangan die mathematischen Fähigkeiten beeinträchtigt und Hyperaktivität fördert.
In Frankreich und den USA fanden Forscher Indizien dafür, dass Kinder von Müttern, die Lösungsmitteln wie Tetrachlorethylen ausgesetzt waren, zu aggressivem Verhalten, Hyperaktivität und psychischen Erkrankungen neigen. Drei Kohortenstudien zeigen, dass Kinder, die im Mutterleib Organophosphat- Pestiziden ausgesetzt waren, einen kleineren Kopfumfang haben und bis ins Schulalter hinein Defizite in ihrer geistigen und sozialen Entwicklung zeigen.
Enorme Dunkelziffer
„Unsere größte Sorge aber ist die große Zahl von Kindern, deren Gehirn durch giftigen Chemikalien geschädigt wurde, die aber nie eine formelle Diagnose erhalten haben“, erklärt Grandjean. „Sie leiden unter Konzentrationsstörungen, einer verzögerten Entwicklung und schlechten schulischen Leistungen – aber keiner weiß warum.“
Nach Ansicht der Forscher liegt es angesichts der immensen Menge der Umwelt verbreiteten neurotoxischen Chemikalien nahe, sie auch für diese eher unauffälligen Störungen als Ursache anzunehmen. Mindestens die Hälfte der 214 bisher bekannten neurotoxischen Substanzen werden in großen Mengen produziert und in die Umwelt freigesetzt. Und jedes Jahr kommen zwei neue Chemikalien hinzu, bei denen hirnschädigende Wirkungen erkannt werden.
Folgen bleiben ein Leben lang
Die fatale Folge: Die im Mutterleib oder in der frühen Kindheit verursachten Chemikalienschäden sind größtenteils unbehandelbar und bleiben ein Leben lang bestehen, wie die Wissenschaftler erklären. Die Konsequenzen für die Kinder, aber auch ihre Familien und die Gesellschaft als Ganzes sind daher immens.
Allein in der Europäischen Union werden die IQ-Einbußen durch Quecksilber-Belastung auf rund 600.000 IQ-Punkte pro Jahr geschätzt – das entspricht ökonomischen Verlusten von rund zehn Milliarden Euro, wie die Forscher berichten. Und die Gesamtfolgen durch schleichende Vergiftung seien um ein Vielfaches höher. „Wir sind sehr besorgt, dass Kinder weltweit Giftstoffen ausgesetzt sind, die unerkannt ihre Intelligenz unterminieren, ihr Verhalten verändern und ihre Zukunft zerstören“, konstatieren Grandjean und Landrigan.
Tests müssen strenger werden
Sie fordern daher dringende Änderungen in den Zulassungsbestimmungen und Umweltrichtlinien. Auch bereits produzierte Chemikalien sollten noch einmal auf ihre neurotoxische Wirkung hin analysiert werden. Wichtig sei es auch, die Kriterien für diese Tests zu überprüfen, denn bisher werden dabei zwar akute neurotoxische Wirkungen getestet, aber schleichende und pränatale Wirkungen nicht erfasst.
„Wir müssen weg von der irrigen Annahme, nach der neue Chemikalien und Technologien solange als ungefährlich gelten, bis ihnen das Gegenteil bewiesen wird“, warnen die Forscher. Um die Kinder und auch die gesamte Gesellschaft gegen die stille Pandemie der schleichenden Vergiftung zu schützen, müsse man umdenken und entschlossener handeln. (Lancet Neurology, 2014; doi: 10.1016/S1474-4422(13)70278-3)
(Lancet / Harvard University, 18.02.2014 – NPO)
18. Februar 2014