Materialforschung

Künstliche Muskeln aus Nylongarn

Verdrillte Polymerfasern sind hundertfach stärker als menschliche Muskeln, ihr einziger Antrieb: Wärme

Verzwirbelte Polyerfasern reagieren bei Wärme wie künstliche Muskeln © Science/AAAS

Es klingt skurril: Forscher haben aus gewöhnlicher Angelschnur und billigem Nähgarn effektive künstliche Muskeln erzeugt. Einfaches Verdrillen reicht, und die Polymerschnüre beginnen sich je nach Temperatur zu dehnen oder zusammenzuziehen. Ihre Stärke übertrifft dabei die menschlicher Muskeln um das Hundertfache, wie ein internationales Forscherteam im Fachmagazin „Science“ berichtet. Solche Polymer-Muskeln könnten künftig in Robotern, Prothesen, aber auch in selbstregulierenden Lüftern und Fensterhebern eingesetzt werden.

Vom Augenzwinkern übers Aufstehen bis hin zum Leistungssport – alle Bewegungen unseres Körpers basieren auf der Kontraktion und Entspannung von Muskeln. Sie sind eine der genialen Erfindungen der Natur: effektiv, platzsparend und bisher nur schwer zu kopieren. Denn gerade in der Robotik, aber auch für Prothesen sind gut funktionierende künstliche Muskeln begehrt, je kleiner und leiser desto besser. Doch bisher ist es nur bedingt gelungen, Muskeln technisch mit vertretbarem Aufwand nachzubauen.

Auf die Verdrillung kommt es an

Carter Haines von der University of Texas in Dallas und seine Kollegen könnte dies nun gelungen sein – mit einem verblüffend simplen System. Denn ihr Ausgangspunkt waren einfaches, in jedem Laden erhältliches Nähgarn und Angelschnur aus Nylon und Polyethylen. Diese Kunststofffasern bestehen aus langkettigen Molekülen, die bei Temperaturänderung ihre Form und Verknüpfung ändern. Dadurch dehnt es sich beispielsweise bei Erwärmung um wenige Prozent aus. So weit, so bekannt.

In ihren Experimenten stellten die Forscher nun fest, dass sich dieses Verhalten potenzieren lässt, wenn man die Polymer-Schnüre auf bestimmte Weise eng verdrillt. Wird das verzwirbelte Gebilde erwärmt, dehnt es sich stark aus und bei Abkühlung zieht es sich wieder zur Ausgangslänge zusammen. Dreht man die Schnur in der anderen Richtung auf, verhält sich das Gebilde genau umgekehrt. Dabei aber erbringen sie im Unterschied zu vorher enorme Leistungen und verhalten sich erstaunlich muskelähnlich, wie die Forscher berichten.

Diese Lüftungsklappen bewegt ein "Muskel" aus Polymerfasern © University of Texas at Dallas

Die Polymer-Muskeln können hundert Mal mehr Kraft ausüben als ihre menschliche Pendants gleicher Länge und Gewicht, so Haines und seine Kollegen. Die Polymerfasern ziehen sich um bis zu 50 Prozent zusammen, menschliche Muskeln schaffen nur 20 Prozent Kontraktion. Ein Faserbündel mit nur dem zehnfachen Durchmesser eines menschlichen Haares kann bereits rund 7,5 Kilogramm hochheben. Kombiniert man hundert dieser Fasern, heben sie 0,8 Tonnen. Und auch in puncto Ausdauer ist das System offenbar extrem leistungsstark: Selbst bei hoher Belastung können sich die künstlichen Muskeln millionenfach hintereinander zusammenziehen und wieder entspannen, wie die Experimente zeigen.

Vom Roboter zur automatischen Lüftungsklappe

„Anwendungsmöglichkeiten für solche Polymermuskeln gibt es unzählige, sagt Koautor Ray Baughman von der University of Texas in Dallas. Sie könnten überall dort eingesetzt werden, wo übermenschliche Kräfte benötigt werden, beispielsweise für Roboter oder Exoskelette. Aber auch für feinste Bewegungen und Arbeiten eignen sie sich: In das Gesicht eines Pflegeroboters eingebaut, verleihen sie ihm eine lebensechtere Mimik, im OP könnten sie Chirurgen bei Minimalinvasiven Eingriffen helfen. In Handprothesen schließlich würden solche Muskeln für einen feineren Griff sorgen.

Auch ganz alltägliche Anwendungen haben die Forscher bereits getestet: Sie konstruierten eine Lüftungsklappe, deren Lamellen von Polymermuskeln geöffnet und geschlossen wurden. Der große Vorteil: weil die Fasern auf Temperatur reagieren, regeln sie den Luftstrom abhängig von der Raumtemperatur, ohne dass dafür Elektronik oder Steuerungstechnik nötig wäre. Auch eine weitere spannende Anwendungsmöglichkeit haben Haines und seine Kollegen bereits erfolgreich getestet: den Einsatz des Systems in futuristischen Textilien. Sie haben Stoffe aus den Polymer-Muskeln entwickelt, deren Poren sich abhängig von der Temperatur öffnen und schließen. (Science, 2014, doi: 10.1126/science.1246906)

(University of Texas at Dallas / Science, 21.02.2014 – NPO/MVI)

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