Bei Masern gezeugt, die Pocken überlebt? Während einer Epidemie gezeugte Kinder erhalten von ihren Eltern offenbar zusätzlichen Schutz für kommende Krankheitswellen. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler aus Deutschland anhand historischer Aufzeichnungen. Die höhere Widerstandskraft gegen Epidemien hat allerdings einen hohen Preis, schreiben die Forscher im Wissenschaftsjournal „PLOS ONE“.
Immunisierungen und ein gesundes Immunsystem schützen vor Infektionskrankheiten. Bislang galt in der Medizin die Annahme, dass jeder Mensch diesen Schutz ausschließlich nach seiner Geburt selbst erwirbt. Das geschieht meist durch direkten Kontakt mit einem Virus – man bekommt die berüchtigten Kinderkrankheiten. Heutzutage beugen meist Impfungen diesen Krankheiten vor. Das war jedoch nicht immer so – und ist offenbar nicht der einzige Weg, resistent gegen Krankheiten zu werden.
Forscher vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock haben nun entdeckt, dass die Widerstandskraft zu einem gewissen Maß auch von Eltern auf ihrer Kinder übertragen werden kann – und zwar nicht auf genetischem Wege. Zu diesem Ergebnis gelangten Kai Willführ vom MPIDR und Mikko Myrskylä, jetzt an der London School of Economics and Political Science, anhand von Aufzeichnungen über tödliche Masern- und Pockenepidemien im 18. Jahrhundert.
Nachweis in historischen Kirchenbüchern
In der kanadischen Provinz Québec wüteten in den Jahren 1714/15 die Masern. Die vermeintlich harmlose Kinderkrankheit führt in etwa einem von tausend Fällen zu schweren Komplikationen mit bleibenden Hirnschäden. Damals gab es noch keine Impfung, die Masern breiteten sich rasant aus. 15 Jahre später kam es in derselben Region zu einer schweren Pockenepidemie.
Abschriften der Kirchenbücher aus dem St. Lawrence Tal in Québec belegen für die Geburtsjahrgänge von 1705 bis 1724: Kinder, die zur Zeit der Masernepidemie gezeugt wurden, starben deutlich seltener an den Pocken als ältere Kinder. Die Wissenschaftler untersuchten Sterblichkeitsraten bis zum Jahr 1740. Besonders wertvoll waren dabei Vergleiche zwischen Geschwistern. „Wir belegen erstmals für den Menschen, dass Eltern ihre Kinder quasi auf kommende Krankheiten vorbereiten können“, sagt Biodemograf Willführ.
Pocken-Sterblichkeit sank auf ein Siebtel
Und dieser Effekt war deutlich: Die Pocken-Sterblichkeit lag bei den Kindern aus der Masern-Zeit bei nur einem Siebtel der Sterblichkeit anderer Kinder, auch ihrer Geschwister. „Der Mechanismus kann dabei weder rein genetisch sein, noch ist die entwickelte Resistenz auf einzelne Erreger beschränkt“, erklärt Willführ weiter. Einen solchen Weitergabe-Mechanismus zwischen Eltern und Kind nennen Wissenschaftler „funktionalen trans-generationalen Effekt“.
Die Eltern, die zum Zeitpunkt der Empfängnis eine erhöhte Belastung durch Masernerreger erlebten, gaben den Kindern nicht nur Schutz gegen diesen einen Infekt mit. So lässt sich ausschließen, dass die Kinder schlichtweg immun geworden sind: Es ist zwar möglich, dass die Mutter ihre eigene Immunisierung während der Schwangerschaft oder mit der Muttermilch durch Antikörper an den Nachwuchs weitergibt. Diese Abwehr schützt aber nur vor derselben Krankheit, gegen die auch die Mutter immun war, in diesem Fall die Masern. Die Kinder waren aber besonders widerstandfähig gegen eine ganz andere Krankheit, nämlich die Pocken. Die Abwehr von Erregern funktionierte in der nächsten Generation offenbar generell besser.
Hoher Preis für höhere Resistenz
Auch dass der Effekt erst nach der Geburt eingetreten ist, schließen die Forscher aus: „Die Masern können nur während der Zeugungs- und Schwangerschaftsphase einen Anreiz gesetzt haben, den die Eltern dann auf die nächste Generation übertrugen“, sagt Kai Willführ. Denn als die während der Masernwelle gezeugten Kinder zur Welt kamen, war die Epidemie schon wieder vorbei – die Erreger also nicht mehr in der Umwelt.
Dieser Effekt hat allerdings offenbar einen hohen Preis: In den Jahren zwischen den Krankheitswellen, von 1715 bis 1730 also, lag die Sterblichkeit der Pocken-resistenteren Kinder dreimal so hoch, verglichen mit ihren älteren und jüngeren Geschwistern. „Offenbar ist das Abwehrsystem der Kinder auf eine Welt mit hoher Erregerbelastung optimiert, wenn sie bei der Zeugung hoch war“, sagt Willführ. Zu einer Welt mit wenigen Erregern passt es dann aber anscheinend weniger gut und funktioniert schlechter. (PLOS ONE, 2014; doi: 10.1371/journal.pone.0093868)
(Max-Planck-Institut für demografische Forschung, 17.04.2014 – AKR)