Schriftvorläufer schon vor 12.000 Jahren: Schon die Erbauer des Steinzeit-Heiligtums Göbekli Tepe in der Türkei könnten den ersten Schritt vom Bild zur Schrift gegangen sein. Ein deutscher Archäologe sieht in der Bildersprache von Göbekli Tepe deutliche Hinweise auf eine beginnende Abstraktion und damit den Anfang einer symbolischen Kodierung – mehr als 5.000 Jahre vor den ersten ägyptischen Hieroglyphen.
Schon vor Jahrzehntausenden hinterließen eiszeitliche Jäger ihre Höhlenmalereien, sie bildeten darin ihre Lebenswelt ab. Wie und wann sich aus solchen konkreten Abbildungen die ersten Symbole und dann Schriftzeichen entwickelten, war jedoch bisher weitgehend unklar. Doch ein einzigartiges Steinzeitbauwerk gibt nun Aufschluss: Göbekli Tepe. Diese monumentalen Ringanalagen nahe der heutigen türkischen Stadt Sanliurfa errichteten Menschen vor rund 12.000 Jahren.
Tierbilder, Hände und die Mondsichel
Geprägt sind die Steinkreise von Göbekli Tepe durch große, T-förmige Pfeiler aus Kalkstein. Häufig finden sich auf diesen T-Pfeilern in Flachreliefen dargestellte Tiere, darunter Schlangen, Skorpione, Füchse, Kraniche, Gazellen und Wildesel. Außerdem gibt es stärker abstrahierte Zeichen wie Tiere, Hände oder die Kombination aus Mondscheibe und -sichel. Genau diese Zeichen deuten nach Ansicht von Ludwig Morenz von der Abteilung für Ägyptologie der Universität Bonn darauf hin, dass schon die Steinzeitmenschen erste Schritte hin in Richtung Schrift gegangen sein müssen.
„Das Höhenheiligtum ist so etwas wie das fehlende Bindeglied zwischen Bildern und den ersten Schriftzeichen“, sagt Morenz. „Göbekli Tepe steht für die Entwicklung von reinen Bildern zur Kodierung von darüber hinaus gehender Bedeutung.“ Während es sich bei der Darstellung eines Stieres etwa in der Höhle von Altamira in Spanien um das direkte Abbild des Tieres handelt, sei ein Stierkopf in dem Höhenheiligtum der Türkei von der primären Bildbedeutung losgelöst als abstraktes Symbol für eine Gottheit zu verstehen.
Abstrahierte Bilder als Symbole
Die Bildzeichen könnten gleichzeitig mehrere Bedeutungen haben: Ein Schlange steht einerseits für Bedrohung, kann aber auch als Zeichen für etwas Abwesendes verstanden werden – weil der Abdruck der Schlange im Sand verbleibt, wenn das Tier längst weitergezogen ist. Das Abbild einer abstrahierten Hand lässt sich als Geste – etwa von Abwehr – interpretieren. „Es handelt sich dabei um einen Sprung in eine neue mediale Welt“, sagt Morenz. Die Tierabbildungen von Göbekli Tepe wurden seiner Meinung nach bereits als solche Symbole verwendet.
Schon am Ende der Eiszeit wurden demnach Grundlagen gelegt, auf denen die spätere kulturelle Revolution aufbauen konnte. Allerdings: „Bei dieser frühen Bildsprache handelt es sich noch um keine Schriftzeichen“, stellt der Forscher klar. Schriftzeichen sind noch einmal deutlich differenzierter und enthalten auch Informationen darüber, wie ein bestimmtes Zeichen ausgesprochen wird. Dennoch sei diese frühe Form der Bildzeichen immerhin mehr als doppelt so alt wie die ältesten Schriftzeichen der Altägypter.
Ähnliche Symbole auch anderswo
Der Ägyptologe untermauert seine These mit der Tatsache, dass insgesamt rund 20 verschiedene Bildzeichen in ähnlicher Form auch noch in anderen frühneolithischen Fundorten im Umkreis von 150 Kilometern um Göbekli Tepe herum entdeckt wurden. In dieser fruchtbaren Landschaft zwischen den Oberläufen von Euphrat und Tigris wurden Menschen früh sesshaft. Sie teilten in den verschiedenen Siedlungen mit leichten Abwandlungen die gleichen Bildzeichen. „Das kann kein Zufall sein, die Menschen dieses Kulturraumes müssen sich auf ein einheitliches Zeichensystem geeinigt haben“, ist Morenz überzeugt.
Göbekli Tepe zeigt nach Ansicht des Forschers eindrücklich, wie komplex und spezialisiert bereits die steinzeitliche Gesellschaft vor rund 12.000 Jahren war. „Der Gebrauch von Sprache, Hand und Hirn gingen mit einander einher“, sagt Morenz. In dem Maß, wie sich die Menschen damals mit großem handwerklichen und intellektuellem Geschick eine abstrakte Bildsprache schufen, drangen sie jenseits der Herausforderungen des Alltags in religiöse Sphären vor und stellten sich bereits den Grundfragen der Menschheit nach dem Jenseits. „Es handelt sich um den Beginn der medialen Entwicklung und um den Aufbruch in neue Denkräume“, sagt Morenz.
(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 20.10.2014 – NPO)