Medizintechnik

Chip-Organismus statt Tierversuche

Zellkulturen und künstlicher Blutkreislauf stellen menschlichen Körper nach

Labortiere wie diese Wistar-Ratte sind in Tierversuchen bislang noch sehr verbreitet. © NCI / Janet Stephens / gemeinfrei

Vielversprechende Alternative zu Tierversuchen: Deutsche Wissenschaftler haben einen Organismus im Miniaturformat auf einem Chip simuliert. Mit dem System aus Zellproben und einem nachgestellten Blutkreislauf lassen sich die komplexen Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper realistisch analysieren. Viele Tierexperimente in medizinischer Forschung und Kosmetikindustrie könnten sich so ersetzen lassen.

Tierversuche sind in der medizinischen Forschung bislang ein notwendiges Übel. Viele heute unverzichtbare medizinische Erkenntnisse waren erst dadurch möglich. Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten darum an zuverlässigen Alternativen zu Tierexperimenten, um die Anzahl der in den Forschungslaboren benötigten Versuchstiere zu vermindern.

Chip simuliert menschlichen Blutkreislauf

Doch Ersatz zu finden, ist schwierig: Um die Wirkung einer Substanz zu verstehen, genügt es nicht, die Stoffe an einzelnen Gewebeproben oder Zellen zu testen. „Die meisten Medikamente wirken systemisch, also auf den gesamten Organismus“, erklärt Frank Sonntag vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff und Strahltechnik IWS. „Dabei entstehen oftmals erst durch Stoffwechselvorgänge toxische Substanzen, die wiederum nur bestimmte Organe schädigen.“

Sonntag und seine Kollegen haben eine der möglichen Alternativen zu Tierexperimenten nun entscheidend verbessert. Dabei stellen sie auf einem Chip die Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper verblüffend genau nach. „Unser System ist ein Miniorganismus im Maßstab 1:100 000 zum Menschen“, so Sonntag.

In dem Chip lassen sich an mehreren Positionen menschliche Zellen aus verschiedenen Organen aufbringen. Diese „Mini-Organe“ sind durch winzige Kanäle miteinander verbunden. Ähnlich wie das menschliche Herz befördert eine Mikropumpe kontinuierlich flüssiges Zellkulturmedium durch diese Kanäle. „Damit simulieren wir den menschlichen Blutkreislauf“, erklärt Sonntag.

Mit den Mikrokreisläufen auf dem kompakten Multiorgan-Chip lässt sich ein Organismus im Miniaturformat nachstellen. © Fraunhofer IWS

Mikropumpe sorgt für realitätsgetreue Strömung

Die Idee, verschiedene Zellproben mit Kanälen zu verbinden, gibt es schon länger. Neu ist jedoch der Einsatz der Mikropumpe: Sie befördert winzigste Fördermengen von unter 0,5 Mikroliter pro Sekunde durch die Kanäle. „Dadurch ist das Verhältnis zwischen Zellprobe und flüssigem Medium realitätsgetreu“, erläutert Sonntag. Stimmt dieses Verhältnis nicht, führt das zu ungenauen Ergebnissen.

Außerdem entsteht dadurch eine Strömung im System – wie das menschliche Blut fließt das Medium kontinuierlich durch den gesamten Kreislauf auf dem Chip. Das ist wichtig, da manche Zelltypen sich nur dann „authentisch“ verhalten, wenn sie durch eine Strömung angeregt werden. Dazu gehören zum Beispiel die sogenannten Endothelzellen der Niere. Diese spielen bei vielen Nierenerkrankungen eine Schlüsselrolle, Kulturen dieser Zellen waren wegen der fehlenden Strömung bislang jedoch nur wenig aussagekräftig.

Aussagekräftiger als Tierexperimente

Den genauen Aufbau des Chips, also die Anzahl der simulierten Organe und die Verbindung mit den Mikrokanälen, können die Forscher spezifisch an unterschiedliche Fragestellungen und Anwendungen anpassen. Um zum Beispiel zu testen, wie verträglich eine Substanz ist, bestücken die Wissenschaftler zunächst den Chip mit verschiedenen Zellproben. Über dasjenige Mini-Organ, an dem der Stoff im menschlichen Körper in den Blutkreislauf eintritt, führen die Forscher dann den Wirkstoff zu. Das sind zum Beispiel Zellen aus der Darmwand.

Auf dem Chip laufen dann die gleichen Stoffwechselreaktionen wie im menschlichen Organismus ab. Die Forscher sehen genau, welche Stoffwechselprodukte sich in bestimmten Zellproben bilden und ob und welche Auswirkungen dies auf andere Zellen hat. Da es sich bei den Proben um menschliche Zellen handelt, sind die Ergebnisse sind sogar aussagekräftiger als Tierexperimente. Die Wirkungen auf Mäuse oder Ratten lassen sich nämlich nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen.

Mit solchen Chips lassen sich sowohl Wirkstoffe von neuen Medikamenten testen als auch Kosmetika auf ihre Hautverträglichkeit untersuchen. In der Kosmetikindustrie und in der medizinischen Forschung könnten damit in Zukunft viele Tierversuche ersetzt werden. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zeichnete den Chip als Alternative zu Tierversuchen darum mit dem Tierschutz-Forschungspreis 2014 aus. Bei einigen Unternehmen ist der künstliche Organismus bereits im Einsatz.

(Fraunhofer-Gesellschaft, 03.02.2015 – AKR)

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