Fangzähne und Stummelbeinchen: In Brasilien haben Forscher erstmals einen Schlangen-Urahn entdeckt, der noch vier Beine besitzt. Das mehr als 100 Millionen Jahre alte Fossil nutzte diese kurzen Stummel nicht zum Laufen, sondern wahrscheinlich zum Greifen. Ein im Bauch der Urschlange konserviertes Beutetier belegt, dass sie bereits Wirbeltiere jagte und fraß. Die Anatomie des Fossils spricht zudem gegen die Annahme, dass Schlagen einst im Wasser entstanden, wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten.
Schlangen gehören heute zu den artenreichsten Landwirbeltieren – und zu den erfolgreichsten. Denn es gibt kaum einen Lebensraum, den die beinlosen Reptilien nicht für sich erobert haben. „Sie bewohnen Wüsten und Regenwälder, Gebirge und Ozeane“, erklären David Martill von der University of Portsmouth und seine Kollegen. „Trotz ihrer fehlenden Gliedmaßen haben sie eine außergewöhnliche Bandbreite an Bewegungsmethoden entwickelt: Sie kriechen, graben, klettern, schwimmen und gleiten sogar durch die Luft.“
Ursprünge umstritten
Wo und in welcher Form das Erfolgsrezept Schlange einst entstand, ist jedoch bisher unklar. Einige Forscher vermuten, dass die Vorfahren der Schlangen einst im Meer lebten und dort ihre Beine verloren, andere halten dagegen eher eine grabende Lebensweise für wahrscheinlich. Dafür lieferte ein 2012 entdecktes Fossil erste Hinweise. Auch ob die Urschlange Fleisch- oder Insektenfresser war, ist umstritten.
Ein Fossilfund im Nordosten Brasiliens könnte diese Fragen nun geklärt haben. Denn in einer Sandstein-Formation aus der frühen Kreidezeit entdeckten die Forscher erstmals eine Urschlange mit vier Beinen – eine echte Sensation. „Es gibt zwar einige neue Fossilien mit erhaltenen Hinterbeinen, aber man kannte bisher keine, bei der alle vier Gliedmaßen noch vorhanden waren“, so Martill und seine Kollegen. Die Anatomie dieser Urschlange liefert wertvolle Informationen über ihre Lebensweise.
Stummelbeinchen als Greifhilfe?
Das 149 bis 100 Millionen Jahre alte Fossil besitzt 150 Rumpfwirbel und damit den typischen langgestreckten Körper der späteren Schlangen. Auch ihre kurze Schnauze mit flexibel miteinander verbundenen Kiefern und hakenförmigen Fangzähnen sind schon schlangentypisch, wie die Forscher berichten. Doch kurz hinter dem Kopf und vor dem Schwanz besaß diese Urschlange jeweils ein kleines Beinpaar.
„Diese Beine spielten wahrscheinlich nur eine geringe oder keine Rolle für ihre Fortbewegung“, so die Forscher. Aber auch zum Schwimmen oder Graben scheinen sie nicht breit und stabil genug. Stattdessen sprechen die verlängerten Fingerglieder dafür, dass die Tetrapodophis getaufte Urschlange ihre Gliedmaßen zum Greifen oder Einhaken nutzte. „Die Beine könnten zum Greifen von Beute oder vielleicht zum Festhalten des Partners gedient haben“, mutmaßen Martill und seine Kollegen.
Höhlenbewohnender Fleischfresser
Auffällig zudem: Der Urschlange fehlen typische Anpassungen ans Wasserleben wie ein verbreiterter Schwanz oder verdickte Knochen. Stattdessen zeigt sie Merkmale von grabenden Schlangen und Echsen: eine kurze Schnauze, ein flacher, nach hinten verlängerter Schädel und der wurmförmige Körper mit reduzierten Gliedmaßen und kurzem Schwanz. „Das stützt die Hypothese, dass sich Schlangen eher aus grabenden als aus marinen Vorfahren entwickelten“, meinen die Forscher.
Eine besondere Entdeckung machten die Forscher am Rumpf von Tetrapodophis: In ihrem Darm war der fossile Überrest ihrer letzten Beute erhalten – ein kleines Wirbeltier. Zusammen mit den Fangzähnen und dem flexiblen, dehnbaren Kiefergelenk spricht dies nach Ansicht der Wissenschaftler dafür, dass diese Urschlange bereits andere Wirbeltiere verspeiste. „Das Fleischfressen entwickelte sich demnach schon früh in der Geschichte der Schlangen“, so Martill und seine Kollegen.
Und noch etwas verrät der neue Fossilfund: Ihr Fundort in Brasilien, zusammen mit weiteren Urschlangenfunden in Afrika, Südamerika und Indien spricht dafür, dass der alte Südkontinent Gondwana der Geburtsort der ersten Schlangen war. Erst von dort aus eroberte dieses erfolgreiche Reptil dann den Rest der Welt. (Science, 2015; doi: 10.1126/science.aaa9208)
(American Association for the Advancement of Science, 24.07.2015 – NPO)