102 Meter versetzt: Die Linie, die im englischen Greenwich den nullten Längengrad markiert, stimmt nicht mehr. Denn der offizielle, per GPS bestimmte Meridian liegt heute 102 Meter östlich davon. Warum das so ist und welche Auswirkungen dies auf das gesamte Meridiansystem der Erde hat, haben US-Forscher nun näher untersucht.
Im Jahr 1884 einigten sich die Vertreter von 25 Nationen auf der Internationalen Meridiankonferenz erstmals auf ein einheitliches System von Längengraden und Zeiten. Fortan, so beschloss man, sollte das Transitteleskop des Observatoriums von Greenwich den Nullmeridian und damit auch den Bezugspunkt für die Weltzeit markieren. Wer heute Greenwich besucht, der kann im Innenhof des Royal Greenwich Observatory den Nullmeridian als Messingstreifen besichtigen.
Doch es gibt eine seltsame Diskrepanz: „Touristen, die die Meridianlinie besuchen, müssen 102 Meter nach Osten laufen, bis auch ihre Satellitenempfänger den nullten Längengrad anzeigen“, erklären Stephen Malys von der US National Geospatial-Intelligence Agency in Springfield und seine Kollegen. Denn das GPS-System und andere offizielle Vermessungssysteme nutzen eine Nulllinie, die 5,3 Gradsekunden östlich liegt.
Lokale Schwerkrafteffekte
Aber warum? Schuld an dieser Verschiebung ist das Weltraumzeitalter: „Mit den Fortschritten der Technologie war die Veränderung des Nullmeridians unausweichlich“, erklärt der Astronom Ken Seidelmann von der University of Virginia. Im 19. Jahrhundert bestimmte man Zeit und Längengrad durch die Positionen bestimmter „Uhrensterne“ gegenüber einer senkrechten Referenzfläche. Diese wurde unter anderem mit Hilfe eines Beckens flüssigen Quecksilbers ermittelt.
Doch genau hier liegt der Haken. Denn diese Methode wird durch lokale Variationen im Schwerefeld der Erde beeinflusst. Landschaftsformen und Schwereanomalien bewirken, dass die per Quecksilber bestimmte Senkrechte je nach Standort leicht von der wahren Senkrechten abweicht. Diese Abweichung wird auch als vertikale Auslenkung bezeichnet.
Erdmittelpunkt als Referenz
Während erdbasierte Methoden – und damit auch die in Greenwich eingesetzten – diese Auslenkung aufweisen, nutzen moderne satellitengestützten Verfahren einen anderen Bezugspunkt: „Bei ihnen muss die Referenzfläche durch das Massenzentrum der Erde führen“, erklären Malys und seine Kollegen. Dies eliminiert den Einfluss lokaler Landschaftsformen – und führt so zu einer Abweichung von den alten Messwerten.
Aber bedeutet dies, dass das gesamte System der Längengrade nun verschoben ist? Wie die Forscher ermittelten, ist dies nicht der Fall. Denn die Abweichungen in Greenwich sind ein lokaler Effekt. „Es hat keine systematische Rotation der globalen Längengrade beim Übergang vom früheren astronomischen System zum jetzigen geodätischen gegeben“, so die Forscher. „Aber vielleicht sollte man dennoch einen neuen Marker in Greenwich Park installieren, der auch den neuen Meridian markiert“, meint Seidelman. (Journal of Geodesy, 2015; doi: 10.1007/s00190-015-0844-y)
(University of Virginia, 12.08.2015 – NPO)