Ein Buch in einer Stunde oder den E-Mail-Posteingang mal eben in der Mittagspause? Mit speziellen Schnelllese-Techniken sollen sich Texte zügiger lesen und dennoch gut verstehen lassen. In der Praxis kann die Methode dieses Versprechen allerdings nicht halten. Wie Forscher berichten, geht Turbolesen fast immer auf Kosten der Genauigkeit. Wir sind damit zwar schneller fertig, verpassen aber wichtige inhaltliche Details.
Ob Alltag, Schule oder Beruf – Lesen ist eine fundamentale Fertigkeit. Schon Kindergarten-Kinder sind in der Lage, den Unterschied, zwischen Wörtern und Bildern zu begreifen. Spätestens in der Schule lernen wir dann, Schrift tatsächlich zu lesen und zu verstehen. Die Geschwindigkeit, mit der wir den Inhalt von Texten aufnehmen können, wird dabei mit dem Erwachsenenalter immer wichtiger. Gerade Studium und Beruf erfordern vielfach das Lesen großer Mengen von Büchern, Fachliteratur oder E-Mails. Schnell lesen zu können ist da enorm hilfreich und spart vor allem wertvolle Zeit.
Kein Wunder also, dass die Nachfrage nach Schnell-Lese-Seminaren hoch ist. Wer diese Technik beherrscht, soll auch fachlich anspruchsvolle Texte zügiger lesen und dennoch gut verstehen können – so heißt es jedenfalls. Doch funktioniert das Turbolesen wirklich so gut wie die Anbieter von Seminaren und speziellen Speed Reading-Apps versprechen? Dieser Frage sind nun Wissenschaftler um Keith Rayner und Elizabeth Schotter von der University of California in San Diego nachgegangen – und zu ernüchternden Ergebnissen gekommen.
Auf Kosten des Verständnisses
Für ihre Analyse haben die Forscher zusammengetragen, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten über unser Leseverhalten und spezielle Lesestrategien herausgefunden hat. Der Blick in die Fachliteratur offenbart: Schnelligkeit geht in der Regel zu Lasten der Genauigkeit: „Wenn Leser weniger Zeit in das Material investieren, nehmen sie den Inhalt zwangsläufig schlechter auf“, sagt Schotter.
Auch ohne Schnelllese-Technik schaffen geübte Leser zwischen 200 und 400 Wörtern pro Minute, je nach Komplexität des Textes. Eine noch höhere Geschwindigkeit ohne Verständnisverlust sei auch mit speziellen Computerprogramme nicht zu erreichen, sagen die Wissenschaftler. Solche Programme präsentieren die Wörter eines Textes einzeln und schnell hintereinander im Zentrum des Bildschirms. Die Notwendigkeit, beim Lesen die Augen zu bewegen, fällt so weg.
Das bringt Schotter und ihren Kollegen zufolge jedoch wenig: Denn unsere Augenbewegungen machen nur zehn Prozent der gesamten Lesezeit aus. Und die minimale Zeitersparnis geht auf Kosten des Verständnisses. Ohne im Text zurückgehen zu können, um Wörter oder Sätze noch einmal zu Lesen, verstehen wir den Text insgesamt schlechter.
Viel Lesen hilft
Die größte Herausforderung beim Lesen ist im Normalfall ohnehin nicht das Sehen. Anspruchsvoll ist vielmehr die Fähigkeit zu erkennen, wie sich aus der Kombination einzelner Wörter Sätze mit Bedeutung ergeben. Damit wir Texte schneller verstehen, muss deshalb vor allem ihre Sprache einfacher sein.
Ganz nutzlos ist Turbolesen trotzdem nicht. Geht es nur darum, die Kernaussage eines Textes zu erfassen ohne alle Details zu kennen, funktioniert eine besondere Schnelllese-Strategie den Forschern zufolge hervorragend: das Querlesen. Auch wer sich mit dem Thema eines Textes schon im Vorfeld gut auskenne, könne wichtige Aspekte und Schlüsselwörter auf diese Weise schneller herausfiltern.
Ansonsten hilft nur üben, üben, üben. Allein häufiges Lesen verbessere die Lesefertigkeiten, schreiben die Wissenschaftler. „Man baut sich so einen reicheren Wortschatz auf und lernt zudem, die Bedeutung unbekannter Begriffe vom Kontext zu erschließen.“ (Psychological Science, 2016, doi: 10.1177/1529100615623267)
(Association for Psychological Science, 18.01.2016 – DAL)