Neurobiologie

Erster übergreifender Atlas unserer Hirnrinde

Unser Cortex hat 180 Areale auf jeder Seite - mindestens

Mindetens 180 Areale auf jeder Seite des Cortex helfen uns beim Denken © Matthew F. Glasser/ David C. Van Essen

Denken in 360 Parzellen: Unsere Großhirnrinde nutzt Arbeitsteilung – verschiedene Areale übernehmen mal allein, mal gemeinsam die Aufgaben. Ein neuer Hirn-Atlas zeigt nun erstmals, wie viele solcher Areale es in unserem Cortex gibt – und vereint dabei anatomische und funktionelle Merkmale. Demnach besitzen wir 180 voneinander abgegrenzte Areale in jeder Hirnhälfte, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Wenn zwei Neurowissenschaftler sich bisher über ein Hirnareal unterhielten, konnte es gut sein, dass sie über zwei verschiedene Stellen unseres Denkorgans redeten. Denn wie viele funktionell und anatomisch unterschiedliche Areale es im Gehirn gibt und wo genau ihre Grenzen liegen, darüber herrschte bisher keine Einigkeit. Die Zahl der Areale in gängigen Hirnkarten variiert daher von 50 bis zu über 200.

Unsichtbare Grenzen

Der Grund dafür: „Ein großer Teil des Gehirns sieht oberflächlich betrachtet gleich aus“, erklärt Studienleiter Matthew Glasser von der Washington University in Saint-Louis. „Daher ähnelt eine Hirnkarte eher einem politischen Atlas als einer topografischen Karte – die Grenzen sind unsichtbar, aber dennoch extrem wichtig.“ Sie zu identifizieren ist jedoch alles andere als leicht.

Hinzu kommt: Bisherige Kartierungen des Gehirns beruhten oft nur auf einem Abgrenzungs-Parameter. Ein kürzlich veröffentlichter Wortatlas zeigt beispielsweise, wo unser Gehirn welche Wörter verarbeitet, ein anderer kartiert die Verschaltung der Neuronen oder Unterschiede in der Gewebe-und Zellarchitektur. Eine übergreifende Karte, die Funktion, Anatomie, Zellarchitektur und Verknüpfungen in sich vereint, fehlte jedoch.

Eine neue Kartierung zeigt erstmals die Areale unseres Cortex© Nature Video

Funktion und Anatomie kombiniert

Einen solchen umfassenden Atlas der Areale in der menschlichen Großhirnrinde haben nun Glasser und sein Team erstellt. Die Karte basiert auf den anatomischen Daten des Human Connectome Projekts, für das die Gehirne von 1.200 jungen Männern und Frauen mit Hilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) analysiert wurden.

Diese Daten kombinierten die Forscher mit funktionellen MRT-Hirnscans von 210 weiteren Probanden. Diese spiegelten die Aktivität verschiedener Areale der Hirnrinde in Ruhe und bei sieben verschiedenen Tätigkeiten wider – beispielsweise dem Hören einer Geschichte, beim Bewegen der Hand oder Ähnlichem. Die vergleichende Auswertung aller Daten mit Hilfe eines lernfähigen Algorithmus ermöglichte es Glasser und seinen Kollegen, herauszufinden, wie die Hirnrinde aufgeteilt ist – und das sowohl anatomisch als auch funktionell.

180 Areale auf jeder Seite

Das Resultat ist die bisher umfassendste und detaillierteste Karte der Hirnrinde. Sie identifiziert 180 verschiedene Areale in jeder Hemisphäre, darunter 97 neue, zuvor nicht als eigene Bereiche erkannte Areale. „Wir erwarten nicht, dass das schon die endgültige Zahl ist“, betont Glasser. „Wir haben uns jetzt erst einmal darauf konzentriert, nur die Grenzen einzutragen, bei denen wir ziemlich sicher sind.“

Die 180 Hirnareale pro Seite unterscheiden sich stark in ihrer Größe, ihrer Form und ihrer Lage in Bezug auf die Falten und Windungen der Hirnrinde. Die korrespondierenden Areale in beiden Hirnhälften jedoch sind verblüffend symmetrisch, wie die Forscher erklären. Ausnahmen bilden allerdings einige Bereiche, die für die Verarbeitung von Sprache zuständig sind.

Diese Aufnahme zeigt das Aktivierungsmuster des Cortex beim Hören einer Geschichte - auch solche funktionellen Daten flossen in die Karte ein. © Matthew F. Glasser/ David C. Van Essen

Verflochtenes Mosaik

Und noch etwas zeigt die neue Karte unserer Hirnrinde: Die Areale, die nur eine bekannte Funktion ausüben, sind im Cortex in der Minderheit. Mehr als die Hälfte der jetzt kartierten Hirnbereiche lassen sich jedoch mit gleich mehreren Funktionen in Verbindungen bringen und bilden ein verflochtenes Mosaik, wie Glasser und seine Kollegen berichten: „Es gibt beispielweise viele Areale, die eine kognitive Funktion haben und darüber hinaus mit einer oder mehreren sensorischen Aufgaben verknüpft sind.“

Eine der wahrscheinlich eher monofunktionalen Parzellen unserer Hirnrinde ist beispielsweise das neu identifizierte Areal 55b. Dieses weniger als erdnussgroße Gebiet seitlich unterhalb unseres Scheitels wird immer dann aktiv, wenn wir eine Geschichte vorgelesen oder erzählt bekommen, wie die Forscher erklären.

Bei allen ähnlich – mit kleinen Abweichungen

Interessant auch: Mit Hilfe des Algorithmus gelang es den Forschern, die Cortex-Areale automatisiert auch bei 210 neuen Probanden aufzuspüren und zu erkennen – trotz individueller Unterschiede in den Hirnwindungen. Im Großen und Ganzen ähneln sich demnach Lage und Form dieser Hirn-Parzellen bei allen Menschen ziemlich stark.

Allerdings: Ausgerechnet beim neu entdeckten Areal 55b gab es auffallende Abweichungen. Bei vier Prozent der neuen Probanden war dieses Areal leicht verschoben, bei sechs Prozent wird es von zwei angrenzenden Gebieten in zwei Teile geteilt. „Solche topologischen Abweichungen in den Arealkarten Einzelner wecken spannende Fragen für künftige Forschungen“, konstatieren die Wissenschaftler.

„Bedeutender Fortschritt“

Nach Ansicht von Glasser und seinen Kollegen repäsentiert ihr Atlas der Großhirnrinde einen bedeutende Fortschritt für die Hirnforschung und Neuroanatomie. Mit ihr komme man dem Ziel näher, nach dem Forscher schon seit mehr als einem Jahrhundert streben – einen Einblick in die strukturelle Organisation unseres Denkorgans.

Ähnlich sieht es der Neurowissenschaftler Simon Eickhoff von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: „Der Hirnatlas von Glasser und seinen Kollegen ist die erste multimodale Karte der Cortex-Areale – und sie repräsentiert einen bedeutenden Fortschritt in der Kartierung des menschlichen Gehirns“, schreibt er in einem begleitenden Kommentar. (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature18933)

(Washington University / Nature, 21.07.2016 – NPO)

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