Mehr Selbstständigkeit für Gelähmte: Forscher haben einen Rollstuhl entwickelt, der selbstständig Treppen hinauf- und hinabsteigen kann. Das besonders schmale Gefährt besitzt dafür automatische „Füße“, die sensorgesteuert Stufen erkennen und den Stuhl nach oben oder unten heben. Der Clou dabei: Der Rollstuhl stabilisiert sich dabei selbst, so dass er auch auf der Treppe sicheren Halt hat.
Freunde besuchen, einkaufen gehen, an Veranstaltungen teilnehmen: Mobilität ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Allerdings ist es für gelähmte Menschen oft schwierig, ohne Hilfe auch nur das Haus zu verlassen. Sie müssen Schwellen überwinden, durch enge Türen navigieren und nicht zuletzt oft auch Treppen hinauf oder hinunterkommen. „Die wenigsten Häuser, in denen ältere Menschen wohnen, besitzen Aufzüge“, erklärt Bernhard Wolf von der Technischen Universität München.
Wendig und schmal
Für die Wissenschaftler war schnell klar: Es muss ein Rollstuhl entwickelt werden, der Treppen steigen kann. Wendig und schmal sollte er außerdem sein. Um das zu erreichen, hat der neue Rollstuhl nur eine Achse. Dadurch ist er sehr wendig und kann Bewegungen nach vorn, zurück und Drehungen fast zeitgleich ausführen. Der Rollstuhl hält sich dabei nach dem Prinzip des inversen Pendels aufrecht. „Jede kleine Lageveränderung wird erkannt und vom Antrieb sofort kompensiert“, sagt Wolf.
Doch wie soll der Rollstuhl nun die Treppen überwinden? Bisherige Konzepte verwendeten Raupen oder Gleitrollen. „Diese Rollstühle müssen aber geführt werden“, erklärt Wolf. Das heißt, eine weitere Person muss aufpassen, dass der Stuhl nicht umkippt. Auch haben die Rollstühle einen großen Wendekreis – schmale Treppenhäuser können sie nicht bewältigen.
Füße „erspüren“ die Stufen
Die Wissenschaftler entschieden sich für ein bionisches Konzept. Zwei „Füße“, die sich ähnlich wie menschliche Beine aus Ober- und Unterschenkel zusammensetzen sind am Rollstuhl angebracht. Erkennen die Ultraschallsensoren des Fahrwerks die Treppe, fährt der Rollstuhl rückwärts auf die Treppe zu, bis die beiden Räder die erste Stufe berühren.
Anschließen fahren die „Füße“ aus, wobei sich der Rollstuhl anhebt. Mithilfe von Elektromotoren schieben die Beine den Rollstuhl auf die nächsthöhere Stufe. Das Kamerasystem stellt dabei sicher, dass sich der Rollstuhl auf der Stufe befindet und nicht etwa an der Kante. Mithilfe dieser Technik können auch sehr enge Treppen bewältigt werden – mit Ausnahme von Wendeltreppen. Der Rollstuhl kann so auch Treppen wieder hinabsteigen.
Umfassendes Mobilitäts-Konzept
Mithilfe eines Prototypen haben die Ingenieure bereits gezeigt, dass ihr Prinzip funktioniert. Ihr Konzept geht allerdings über das Treppensteigen hinaus. „Wir wollen, dass die Menschen mit dem Rollstuhl einen echten Mobilitätsersatz haben“, sagt Wolf. So könnte er etwa als Autositz verwendet werden. So müsste er nicht immer zusammengeklappt und im Kofferraum verstaut werden. Auch wäre es nicht nötig, dass sich der Nutzer aus dem Autositz wieder auf den Rollstuhl heben muss.
Noch sind die möglichen Industriepartner jedoch zurückhaltend. „Ich denke, der Grund ist, dass das Prinzip einmal technisch ein bisschen komplex ist und dann gibt es natürlich bereits die standardisierten Rollstühle.“ Wolf ist überzeugt, dass die Nachfrage nach dem bionischen Rollstuhl sicher hoch wäre – denn er würde zwar mehr kosten als ein Standard-Rollstuhl, dafür bietet er seinen Nutzern aber auch die Möglichkeit, sich freier zu bewegen.
(Technische Universität München, 01.12.2016 – NPO)