Erhöhte Arbeitsbelastung: Das Gehirn von Legasthenikern muss sich bei der Reizwahrnehmung stärker anstrengen. Denn es passt sich weniger gut an die Eigenheiten schon bekannter Klänge oder Formen an, wie Forscher in Experimenten feststellten. Das könnte erklären, warum es Menschen mit Legasthenie schwerer fällt, Lesen und Schreiben zu lernen: Ihr Gehirn wird durch die komplexen Aufgaben stärker belastet.
Die Lese-Rechtschreibschwäche ist eine der häufigsten Probleme von Kindern im Schulalter. Rund fünf bis 17 Prozent aller Kinder leiden unter dieser mindestens zum Teil genetisch bedingten Störung. Zwar können gezieltes Training, eine spezielle Formatierung der Texte und auch Hörhilfen den Kindern helfen. Über die neurologischen Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche jedoch weiß man bisher nur wenig.
Gehirn rationalisiert
„Teil des Mysteriums der Legasthenie ist es, dass das Gehirn kein eigenes Lesezentrum besitzt“, erklärt Seniorautor John Gabrieli vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Gemeinsam mit Tyler Perrachione und weiteren MIT-Forscher hat er nun ein weiteres Puzzleteil dieser komplexen Störung aufgedeckt. Für ihre Studie hatten die Forscher einen speziellen Aspekt der Wahrnehmung untersucht: die Anpassung des Gehirns an akustische oder optische Reize.
Wenn wir beispielsweise längere Zeit der gleichen Stimme lauschen, lernt unser Gehirn dessen Eigenheiten und das erleichtert es uns, das Gesprochene zu verstehen. „Man lernt beim ersten Reiz etwas, das die Verarbeitung bei zweiten Mal vereinfacht – das ist an einer verringerten neuronalen Aktivität erkennbar“, erklärt Gabrieli. Ob und in welchem Maße diese Anpassung auch bei Legasthenikern funktioniert, wollten er und seine Kollegen herausfinden.
Kein Gewöhnungseffekt
Im ersten Experiment spielten die Forscher jungen Erwachsenen mit und ohne Legasthenie eine Reihe von gesprochenen Worten vor. In einem Durchgang wurden alle von der gleichen Stimme gesprochen, im anderen war es bei jedem Wort eine andere Stimme. Währenddessen zeichnete ein funktioneller Magnetresonanz-Tomograf (fMRT) die Hirnaktivität der Probanden auf.
Das Ergebnis: Bei der gleichbleibenden Stimme zeigen die Kontrollpersonen wie erwartet einen Gewöhnungseffekt. Ihre Hirnaktivität in den Hörzentren sank nach den ersten Worten messbar ab, bei den wechselnden Stimmen war dies nicht der Fall. Anders dagegen bei den Legasthenikern: Bei ihnen gab es keine Unterschiede zwischen den Versuchsdurchgängen. Ihre Hirnaktivität blieb gleichbleibend hoch. „Das spricht für eine sehr viel schwächere Anpassung des Gehirns“, sagt Perrachione.
Anpassung nur halb so stark
Aber betrifft dieser Effekt nur das Hören oder auch andere Sinneswahrnehmungen? Um das herauszufinden, wiederholten die Forscher das Experiment mit visuellen Reizen und einer neuen Probandengruppe. Wieder gab es bei der Kontrollgruppe eine Anpassung des Gehirns an sich wiederholende Reize, bei den Legasthenikern jedoch nicht. „Das spricht dafür, dass dieser Mangel an Anpassung allgemein ist“, sagt Gabrieli. „Es ändern sich zwar die betroffenen Hirnareale, nicht aber das grundlegende Phänomen.“
„Insgesamt war ich überrascht über das Ausmaß der Unterschiede“, sagt Perrachione. „Bei Menschen ohne Legasthenie sehen wir immer eine klare Anpassung, bei den Legasthenikern war diese immer reduziert – und das oft sehr deutlich.“ Im Durchschnitt war der Anpassungseffekt bei Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche nur halb so stark wie bei Menschen ohne diese Einschränkung. Dieses Defizit ist schon bei Kindern im Grundschulalter ausgeprägt, wie ein weiteres Experiment belegte.
Warum dies beim Lesen besonders stört
Dieses neuronale Anpassungs-Defizit könnte einige der Schwierigkeiten von Legasthenikern erklären. So fällt es betroffenen Kindern manchmal schwerer, gesprochene Wörter korrekt zu verstehen oder Buchstaben zu erkennen. Der wahrscheinliche Grund: Je nach Situation kann das Gehirn die fehlende Anpassung zwar kompensieren, es muss sich dabei aber stärker anstrengen – und das klappt nicht immer.
Beim Lesen, einer hochkomplexen Aufgabe, macht sich diese Zusatzbelastung des Gehirns dann besonders bemerkbar. „Beim Lesen müssen wir die Buchstaben erkennen, sie zu Worten zusammenfügen und diese dann auch noch mit einer Semantik verknüpfen“, erklärt Perrachione. Auch der Klang des Wortes muss gelernt werden.
Die mangelnde Fähigkeit zur neuronalen Anpassung erhöht die Belastung des Gehirns bei diesem Prozess. Wie genau dies jedoch geschieht, wo beispielsweise eine Überlast zu Defiziten führt, muss nun jedoch noch geklärt werden. (Neuron, 2016; doi: 10.1016/j.neuron.2016.11.020)
(Cell Press, 22.12.2016 – NPO)