Mädchen können besser lesen als Jungen – dieses Klischee bestätigen die Ergebnisse von PISA- und anderen Schulleistungsstudien immer wieder. Doch womöglich ist nur das Test-Design schuld an dem vermeintlichen Geschlechtsunterschied. So zumindest argumentieren nun zwei norwegische Forscher. Sie glauben: Die gestellten Aufgaben liegen weiblichen Schülern besser – und auch Differenzen in Sachen Motivation könnten eine Rolle spielen.
Lesen ist eine fundamentale Fertigkeit. Bereits Kindergartenkinder sind dazu in der Lage, zwischen bloßen Bildern und geschriebenen Worten zu unterscheiden. Doch bis sie das Lesen richtig beherrschen, ist es ein langjähriger Prozess – und nicht jedem fällt dieser gleichermaßen leicht. PISA und andere Schulleistungsstudien zeigen immer wieder, dass Mädchen in Sachen Lesen die Nase vorn haben. In fast allen Ländern schneiden sie bei den Leseaufgaben besser ab als ihre männlichen Mitschüler.
Dieser Unterschied offenbart sich bereits im Alter von zehn Jahren und wird in der Gruppe der Fünfzehnjährigen noch deutlicher. Bei noch Älteren jedoch ist von der geschlechtsspezifischen Kompetenzdifferenz plötzlich nichts mehr zu spüren. Wie kann es sein, dass die vermeintlich schlechteren Leser auf einmal derartig aufholen?
Aufgabendesign unter der Lupe
Oddny Judith Solheim und Kjersti Lundetræ von der Universität Stavanger in Norwegen haben einen Verdacht: Könnte es sein, dass die in den Schultests gemessenen Unterschiede zumindest zum Teil durch die Gestaltung der Aufgaben zustande kommen – und Jungen gar nicht grundsätzlich schlechtere Leser sind?
Um das zu überprüfen, verglichen die Forscherinnen die Designs von zwei Schulleistungstests – dem PILRS-Test für die fünfte und dem PISA-Test für die zehnte Klasse – mit dem PIAAC-Test, der die Kompetenzen von Erwachsenen erhebt. All diese Tests definieren Lesekompetenz als die Fähigkeit, geschriebene Texte verstehen und nutzen zu können. PISA und PIAAC testen außerdem, ob die Teilnehmer das Gelesene eigenständig reflektieren und bewerten können.
Textform als Erklärung
Wie diese Kompetenz gemessen wird, unterscheidet sich von Test zu Test jedoch erheblich: „Es scheint, dass PISA und PIRLS, also die in der Schule gestellten Tests, so gestaltet sind, dass sie Mädchen besser liegen. Der PIAAC-Test ist hingegen anders aufgebaut. Das könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, dass wir bei den Ergebnissen aus der Schule diese Geschlechtsunterschiede sehen“, sagt Solheim.
Warum die Schultests Mädchen womöglich leichter fallen, erklären die Wissenschaftler so: Zum einen ist ihnen zufolge die Textform schuld. Demnach kommen in PISA und PIRLS überwiegend lange und auch fiktive Texte vor. Gerade solche Texte können Mädchen erwiesenermaßen besser lesen als Jungen, sagt das Team.
Das männliche Geschlecht kann dagegen mehr mit kürzeren und faktenbasierten Formen wie Werbeanzeigen oder beschrifteten Graphen anfangen. Tatsächlich ist im PIAAC-Test der Anteil von langen zu kurzen und fiktiven zu faktenbasierten Texten ausgewogen – und damit verschwindet auch der zuvor gemessene Kompetenzunterschied.
Das Schreiben macht den Unterschied
Ein weiterer Punkt: Während sich bei Erwachsenen keine Unterschiede bezüglich der Lesekompetenz feststellen lassen, zeigen etliche internationale Studien einen Unterschied beim Schreiben – mit einem Vorteil für die Frauen. „In den vergangenen Jahren mussten Schüler ihre Antworten zu den gelesenen Texten immer öfter selbst aufschreiben anstatt nur die richtige Antwort auf dem Papier anzukreuzen“, berichten die Forscher. So beinhalten bei PISA 65 Prozent der Aufgaben das Schreiben, wovon die Mädchen offenbar profitieren.
Studienergebnisse offenbaren, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei schriftlichen Aufgaben größer sind als etwa bei Multiple-Choice-Fragen – und dass Jungen öfter dazu neigen, die Schreibaufgaben gleich ganz zu überspringen. Das könnte jedoch nicht nur an ihrem Schreibtalent liegen, sondern auch mit einer weiteren, geschlechtsspezifischen Eigenschaft zusammenhängen: der Motivation.
Jungen mit Motivationsproblem?
Scheinen Mädchen nur deshalb beim Lesen besser zu sein, weil ihren männlichen Mitschülern für die Aufgaben der Tests die Motivation fehlt? Die Forscher glauben, ja. Tatsächlich ist bekannt, dass sich Schüler insbesondere in jüngeren Jahren schwieriger für Texte begeistern lassen als Mädchen. Hinzu kommt: Mädchen neigen eher dazu, zu machen, was von ihnen verlangt wird. Jungen hingegen hinterfragen den Sinn einer Aufgabe gerne einmal.
„Die Motivation könnte auch erklären, warum die Geschlechtsunterschiede in der zehnten Klasse am größten sind. Denn Teenager hinterfragen Autoritäten wie die Schule mehr als jüngere Kinder“, sagt Solheim. Zudem seien die Schüler in der Pubertät neben der Schule mit vielen anderen Herausforderungen konfrontiert. Im Erwachsenenalter schwinde dieses Motivationsproblem dagegen – zumal sich die Teilnehmer der PIAAC-Studie freiwillig für den Test melden.
„Tests hinterfragen“
„Womöglich sollten wir hinterfragen, ob die gegenwärtigen Tests beiden Geschlechtern die gleichen Chancen bieten, ihr Potenzial als Leser vollständig zu entfalten“, schließen die Forscher. Die Herausforderung sei nun, herauszufinden, wie die Tests besser gestalten werden können. „Das würde uns eine bessere Grundlage geben, um zu entscheiden, ob wir uns um die Lesekompetenz von Jungen wirklich Sorgen machen müssen“, so Solheim. (Principles, Policy & Practice, 2016; doi: 10.1080/0969594X.2016.1239612)
(The University of Stavanger, 23.01.2017 – DAL)