Neurobiologie

Warum wir immerzu ans Essen denken

Nahrungssuche ist von Hungergefühl entkoppelt

Eigentlich satt, aber in Gedanken schon wieder beim Essen: Das ist ganz normal. © Claudia Knorr/ FMP

Warum laufen wir ständig zum Kühlschrank, obwohl wir eigentlich gar keinen Hunger haben? Dieses Rätsel haben Forscher nun gelöst. Sie entdeckten bei Mäusen einen neuronalen Schaltkreis, der zur Futtersuche animiert – und erstaunlicherweise ist dieser Mechanismus unabhängig von dem physiologischen Bedürfnis nach Nahrung. Was für das Überleben in der freien Natur durchaus sinnvoll ist, könnte womöglich neue Erklärungsansätze für die Entstehung von Essstörungen liefern.

Unsere Gedanken kreisen jeden Tag unzählige Male ums Essen – und das oft, obwohl wir gar nicht hungrig sind. Dieses Phänomen ist ganz normal. Schließlich ist die Nahrungssuche ein angeborener Instinkt. Doch während das Jagen und Sammeln für unsere Vorfahren noch überlebenswichtig war, führt uns das evolutionäre Erbe im 21. Jahrhundert mitunter auch dann an den Kühlschrank oder in den nächsten Supermarkt, wenn es gar nicht nötig wäre.

Doch was passiert bei diesem Vorgang genau im Gehirn? Für Neurowissenschaftler ist das eine hochinteressante Frage, nicht zuletzt, weil Störungen in diesem Bereich womöglich Erkrankungen wie Magersucht erklären können. Forscher um Tatiana Korotkova vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie in Berlin sind der Erklärung nun einen Schritt näher gekommen: Sie haben bei Mäusen einen neuronalen Schaltkreis entdeckt, der die Nahrungssuche offenbar steuert.

Gamma-Oszillationen steuern

Die Wissenschaftler kamen dem Schaltkreis mithilfe der Optogenetik auf die Spur – ein Verfahren, das durch Lichteinwirkung die Steuerung spezieller Signalwege im Gehirn erlaubt. Dabei zeigte sich: Sogenannte Gamma-Oszillationen aktivieren im seitlichen Hypothalamus einen Mechanismus, der Mäuse zur Nahrungssuche animiert. Schalteten Korotkova und ihre Kollegen diesen Signalweg mithilfe des Lichts an, begannen die Nager nach Futterquellen zu suchen – auch dann, wenn sie keinen Hunger hatten.

Dass der Hypothalamus an diesem Mechanismus beteiligt ist, war für das Team wenig erstaunlich: Denn das Essverhalten wird dort reguliert. Überraschend war jedoch, dass die blitzschnellen Gamma-Wellen den Signalweg organisieren: „Es war beeindruckend zu sehen, dass Gamma-Oszillationen im Hypothalamus so einen starken Effekt auslösten, wo diese Hirnregion doch bisher hauptsächlich für ihr Ansprechen auf chemische und hormonelle Signale bekannt war“, berichten die Forscher.

Unabhängig vom Essverhalten

Bemerkenswert auch: Obwohl die Nager mitunter im satten Zustand auf Nahrungssuche gingen und dabei immer fündig wurden, fraßen sie nicht mehr als normal. Für die Wissenschaftler schien damit klar: Nahrungssuche und Essverhalten liegen zumindest teilweise unabhängige Mechanismen zugrunde.

Experimente auf Zellebene belegten diese Annahme: Während der Gamma-Oszillationen wurden nahrungsassoziierte Zellen getrennt von nicht-nahrungsassoziierten Zellen aktiviert. „Dass durch die rhythmischen Einwirkungen auf den Hypothalamus nahrungsassoziierte Zellen selektiv beeinflusst wurden, gibt uns einen wunderbaren Einblick, wie Struktur und Funktion im Gehirn interagieren“, sagt Korotkovas Kollege Alexey Ponomarenko.

Sinnvolle Trennung

Diese Trennung ist für das Überleben in der freien Natur durchaus sinnvoll: „Geeignetes Futter zu finden, ist in der Natur ein zeitraubendes Unterfangen“, erklärt Korotkova. „Deshalb beginnen Tiere schon damit, bevor sie hungrig werden und es vielleicht zu spät sein könnte.“ Auf den Menschen übertragen bedeute das: „Wahrscheinlich ist es dieser Schaltkreis, der uns veranlasst, die Restaurants in einer fremden Stadt abzuchecken oder immer wieder einen Blick in den Kühlschrank zu werfen.“

Die Erkenntnis, dass die Nahrungssuche von dem physiologischen Bedürfnis nach Nahrung und dem Essverhalten entkoppelt ist, könnte nun neue Einblicke in die Entstehung von Essstörungen liefern, hoffen die Forscher. Denn genau diese Diskrepanz scheint bei Betroffenen zum Problem zu werden: Während die einen über den Hunger hinaus essen, meiden andere jeden Kontakt zur Nahrung. (Nature, 2017; doi: 10.1038/nature21066)

(Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP), 02.02.2017 – DAL)

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