„Superhirne“ durchleuchtet: Was macht manche Menschen zu echten Gedächtniskünstlern – und wie sieht es in ihrem Gehirn aus? Eine Studie enthüllt: „Superhirne“ haben kein größeres oder anatomisch anderes Denkorgan als normale Menschen. Dafür aber sind einige Hirnareale bei ihnen stärker verknüpft. Diese funktionellen Verknüpfungen jedoch lassen sich durch Training gezielt stärken, wie ein Experiment belegt. Im Prinzip hat damit jeder das Potenzial zum „Superhirn“.
Wie gut können wir uns an Fakten, Objekte oder Ereignisse erinnern? Die Antwort auf diese Frage hängt von vielen Faktoren ab. So spielen unser Alter, unser Geschlecht und unsere Ausgeschlafenheit eine Rolle, außerdem individuelle Erfahrungen, Gene und der allgemeine Gesundheitszustand. All dies führt dazu, dass es große individuelle Unterschiede im Gedächtnis gibt – einige Menschen sind in dieser Hinsicht wahre Supermerker, die sich scheinbar mühelos lange Zahlenreihen merken, andere haben schon mit einer Telefonnummer Probleme.
Blick ins Denkorgan der „Superhirne“
Aber was unterscheidet die „Superhirne“ von den vergesslicheren Durchschnittsmerkern? Das haben Martin Dresler von der Radboud Universität Nijmegen und seine Kollegen nun erstmals genauer untersucht. Für ihre Studie baten sie 23 „normale“ Kontrollpersonen und Gedächtniskünstler von internationalem Niveau ins Labor.
„Diese Gedächtnis-Athleten demonstrieren regelmäßig die Fähigkeit, sich hunderte von Wörtern, Zahlen oder anderen abstrakten Informationen innerhalb von Minuten einzuprägen“, berichten die Forscher. Landläufig würde man daher annehmen, dass ihre Gehirne bestimmte Besonderheiten aufweisen. Ob das stimmt, prüften die Wissenschaftler durch Hirnscans mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT).
Anatomie gleich, Verknüpfungen nicht
Das überraschende Ergebnis: In Bezug auf Größe und Anatomie fanden die Forscher keinerlei Unterschiede zwischen dem Gehirn der „Supermerker“ und der Kontrollpersonen. Dafür jedoch gab es Auffälligkeiten bei den funktionellen Verknüpfungen – den komplexen Verschaltungen, über die verschiedene Hirnzellen und -areale miteinander kommunizieren und Daten austauschen.
Wie die Scans ergaben, unterscheiden sich die „Superhirne“ vor allem in 25 dieser Verknüpfungen von „Normalos“. Ein ganzes Bündel davon geht vom mittleren präfrontalen Cortex aus – dem Hirnareal hinter unserer Stirn, das unter anderem neues Wissen mit bereits bekanntem abgleicht. Das zweite Bündel konzentriert sich im benachbarten rechten dorsalen präfrontalen Cortex. Dieses Areal ist aktiv, wenn wir strategische Lerntechniken anwenden.
Durch Training erreichbar?
Das Spannende daran: Die funktionellen Verknüpfungen unseres Gehirns sind plastisch. Sie verändern sich je nach Beanspruchung – ähnlich wie die Muskeln in unserem Körper. Das könnte darauf hindeuten, dass die Fähigkeiten der „Superhirne“ gar keine besondere Gabe sind, sondern das Ergebnis intensiven Trainings – und damit potenziell auch für uns Durchschnittsmenschen erreichbar.
Aber stimmt diese Vermutung auch? Das untersuchten die Forscher in einem Experiment mit 51 „normalen“ Probanden. Zu Beginn testeten sie, wie gut sich diese eine Liste zufällig aufeinander folgender Wörter merken konnten. Die meisten Teilnehmer erinnerten sich hinterher noch an 26 bis 30 Wörter von insgesamt 72 – ein auch für die allgemeine Bevölkerung typischer Wert.
Dann begann die Trainingsphase: Ein Teil der Probanden absolvierte jeden Tag eine halbe Stunde lang ein allgemeines Training des Kurzzeitgedächtnisses. Die zweite Gruppe lernte die sogenannte Loci-Methode. Bei dieser geht man im Geiste einen bekannten Weg entlang und ordnet jedes zu merkende Wort einem der Gebäude oder Sehenswürdigkeiten zu. Diese Mnemotechnik nutzen auch die meisten Gedächtniskünstler, wie die Forscher erklären.
Klare Effekte durch Mnemotechnik
Nach 40 Tagen des täglichen Trainings absolvierten alle Probanden erneut den Wortlisten-Gedächtnistest. Das Ergebnis: Die Teilnehmer der Loci-Gruppe hatten ihre Gedächtnisleistungen mehr als verdoppelt: Statt nur rund 26 konnten sie sich nun 62 der 72 Wörter merken. Und nicht nur das: Selbst nach vier Monaten ohne weiteres Training erinnerten sie sich noch an durchschnittlich 46 der 72 Wörter.
„Wenn man einmal mit der Technik des strategischen Merkens vertraut ist und diese Mnemotechnik anwenden kann, dann kann man selbst ohne weiteres Training seine Gedächtnisleistungen auf hohem Niveau halten“, sagt Dresler. Die Teilnehmer, die nur ihr Kurzzeitgedächtnis mit herkömmlichen Merkaufgaben trainiert hatten, verbesserten sich dagegen nur um elf Wörter und verloren diese Fortschritte schnell wieder.
Jeder hat Potenzial zum Superhirn
Noch interessanter aber: Das Training mittels Mnemotechnik bewirkte auch Veränderungen im Gehirn der Teilnehmer: Die Verknüpfungen, die bei den Gedächtniskünstlern besonders ausgeprägt sind, waren bei ihnen nun ebenfalls stärker geworden, wie die Hirnscans enthüllten. „Das belegt, dass man durch Training nicht nur sein Gedächtnis verbessern kann, man kann auch ähnliche Verknüpfungsmuster im Gehirn fördern wie bei einem Gedächtniskünstler“, sagt Dresler.
Im Prinzip bedeutet dies, dass auch wir „Normalmerker“ das Potenzial zum Superhirn in uns tragen – es ist nur eine Frage des richtigen Trainings. Tatsächlich wurde die meisten „Superhirne“ nicht mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis geboren. Stattdessen sind ihre mentalen Leistungen das Ergebnis jahrelangen intensiven Trainings mittels Mnemotechniken. (Neuron, 2017; doi: 10.1016/j.neuron.2017.02.003)
(Cell Press, 10.03.2017 – NPO)