Von wegen viele Augen sehen mehr als zwei: Wer sich in Gesellschaft anderer Menschen befindet, ist offenbar weniger kritisch als alleine. Das legt nun eine Reihe von Experimenten nahe. Demnach hinterfragten Probanden Informationen und Aussagen aus Nachrichtentexten seltener, wenn sie sich als Teil einer Gruppe wähnten. Dies traf sogar auf rein virtuelle Gesellschaft in sozialen Medien zu. Das beobachtete Phänomen könnte deshalb helfen zu erklären, warum sich Fake News in sozialen Netzwerken so schnell und scheinbar ungefiltert verbreiten.
Spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps sind Fake News und „alternative Fakten“ in aller Munde: Sie grassieren in der Politik, kursieren in den Filterblasen von Facebook und Co und agieren als Meinungsmacher auf Twitter. Die sozialen Medien sind als Sprachrohr bei den Urhebern solcher Falschinformationen dabei deshalb so beliebt, weil sie sich dort besonders schnell verbreiten.
Doch warum ist das so? „Wir wissen kaum etwas darüber, wie neue Informationen in diesen Kontexten wahrgenommen werden und vor allem, ob und wie sie überprüft werden“, konstatieren Youjung Jun und ihre Kollegen von der Columbia University in New York. Gehen Menschen mit Nachrichten und Gerüchten in der Umgebung von sozialen Netzwerken zum Beispiel anders um als in anderen Situationen? Genau diese Frage haben die Forscher nun untersucht – und Erstaunliches festgestellt.
Fake News oder wahre Nachricht?
Für ihre Studie überprüften die Wissenschaftler, wie Nutzer von sozialen Medien dort verbreitete nachrichtliche Artikel beurteilen. Dafür führten sie mit insgesamt 2.000 Probanden im Alter von rund 36 Jahren acht verschiedene Experimente durch. In den Versuchen sollten die Teilnehmer unter anderem die Logik von Überschriften bewerten, die Glaubwürdigkeit von Quellen einschätzen oder die in Artikeln enthaltenen Aussagen kritisch hinterfragen.
So mussten die Probanden bei einem der Tests beispielsweise Tatsachenbehauptungen in Nachrichtentexten entweder als wahr oder falsch markieren oder sie mithilfe eines Fact Checking-Häkchens als überprüfungswürdig vermerken. Während ein Teil der Teilnehmer beim Lesen und Bewerten der Nachrichten auf dem Bildschirm nur den eigenen Namen als eingeloggt sehen konnte, sahen andere, dass außer ihnen noch zahlreiche weitere Nutzer in dem für das Experiment kreierten sozialen Netzwerk aktiv waren. Dieser Unterschied war entscheidend, wie die Ergebnisse offenbarten.
Gruppenkontext macht unkritisch
Bei sämtlichen Versuchen zeigte sich ein eindeutiges Muster: Wer sich in Gesellschaft von Mitmenschen befindet, neigt demnach weniger dazu, Informationen und Aussagen nachzuprüfen. Wer alleine ist, liest dagegen kritischer. Frappierender Weise gilt das sogar dann, wenn gar keine direkte soziale Interaktion stattfindet – sondern die Anderen lediglich als stumme, aber anwesende Namen in der virtuellen Umgebung auftauchen.
Woran aber liegt das? Youjung Jun und ihre Kollegen präsentieren gleich drei mögliche Erklärungen. Zum einen könnte das beobachtete Verhalten Ausdruck des sogenannten sozialen Faulenzens sein. Diesem sozialphysiologischen Phänomen zufolge strengen sich Individuen im Kontext einer Gruppe weniger an, wenn auf ein gemeinsames Ziel hingearbeitet wird – insbesondere dann, wenn sie vermuten, dass ihre Einzelleistung ohnehin nicht wahrgenommen wird. Im Versuch könnten Probanden daher auf ihre „Kollegen“ vertraut haben und ihnen das Fact Checking überlassen haben, glaubt das Team.
Aufmerksamkeit sinkt
Eine weitere Möglichkeit ist den Forschern zufolge der Wunsch, gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu entsprechen. Das beinhaltet zum Beispiel, nicht unnötig für Unruhe oder Ärger sorgen zu wollen. „In sozialen Situationen zögern manche Menschen deshalb womöglich, ihre Zweifel bezüglich der Vertrauenswürdigkeit eines Sprechers Ausdruck zu verleihen oder fremde Meinungen offen anzufechten“, schreibt das Team.
Zu guter Letzt vermuten die Wissenschaftler, dass Menschen in der Gruppe schlichtweg weniger aufmerksam sind als alleine. „Dies ist womöglich etwas, das allen Gruppen inhärent ist“, schreiben Youjung Jun und ihre Kollegen. Demnach haben wir im Laufe der Evolution gelernt, uns im Schutz einer Gruppe tendenziell sicherer fühlen zu können.
Was für unsere Vorfahren in der Savanne galt, offenbart sich heute im Kontext sozialer Medien: In der Gruppe sinkt die Aufmerksamkeit des Individuums. Tatsächlich zeigte sich, dass Probanden auch in der Gruppe die Fakten sorgfältiger prüften, wenn sie unmittelbar vor dem Experiment noch einmal zu Wachsamkeit ermahnt wurden.
Appell für den kritischen Blick
Die Ergebnisse tragen Youjung Jun und ihren Kollegen zufolge zu einem besseren Verständnis über den Umgang mit Informationen innerhalb von Gruppenkontexten bei. Die Studie liefere eine weitere Erklärung dafür, warum sich Fake News in sozialen Medien so schnell und scheinbar ungefiltert verbreiten. Jüngst diskutierte Ansätze wie automatische Algorithmen oder menschliche Moderatoren als Fact Checking-Instanz könnten diesem Phänomen zwar womöglich entgegenwirken.
Viel wichtiger sei es jedoch, in der Bevölkerung die Aufmerksamkeit für das Problem zu steigern und die Menschen zu einem kritischen Blick zu erziehen. „Auch wenn wir uns nicht ununterbrochen in erhöhter Aufmerksamkeit üben können: Wir täten gut daran, unsere Weisheit in der Gruppe zu hinterfragen“, schließen die Wissenschaftler. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2017; doi: 10.1073/pnas.1700175114)
(PNAS, 24.05.2017 – DAL)