Bei diesen Gensequenzen handelte es sich um Bereiche, die beim Menschen bekanntermaßen die Gesichtsform beeinflussen. Außerdem stimmten viele der veränderten Gene mit jenen überein, die für die Vielfalt der Schnabelform bei den Darwin-Finken verantwortlich sind. Damit war klar: An dem Schnabel der britischen Meisen muss irgendetwas anders sein.

Meisen aus Großbritannien haben längere Schnäbel als ihre Artgenossen in anderen europäischen Ländern. © Dennis van de Water/ dvdwphotography.com
Schnelle Anpassung
Tatsächlich zeigte sich, dass die in Großbritannien heimischen Vögel längere Schnäbel hatten als ihre Artgenossen. Doch war das schon immer so? Um das zu überprüfen, werteten die Wissenschaftler historische Forschungsdaten aus. Das Ergebnis: „Zwischen den 1970er Jahren und heute ist der Schnabel der Meisen länger geworden“, sagt Mitautor John Slate von der University of Sheffield. „Das ist eine wirklich kurze Zeitspanne für eine derartige Veränderung.“
Was aber war der Treiber für diese Express-Evolution? Die Forscher vermuteten, dass der längere Schnabel wie bei den Darwin-Finken womöglich eine Anpassung an sich verändernde Nahrungsquellen ist. Könnte die Vorliebe der Briten, den Vögeln Futterspender aufzuhängen, etwas damit zu tun haben?
Futterspender als Ursache?
„Wir in Großbritannien geben doppelt so viel für Vogelsamen und Futterspender aus wie die Menschen im Rest von Europa“, erklärt Mitautor Lewis Spurgin von der University of East Anglia in Norwich. „Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein Magazin das Vogelfüttern einmal als britischen Nationalsport bezeichnet.“
Tatsächlich stellten die Forscher bei Beobachtungen in England fest: Kohlmeisen, die die auffälligen Gen-Varianten in ihrem Erbgut trugen, besuchten deutlich häufiger Futterstellen als Vögel, die diese Merkmale nicht hatten. „Wir können zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass das Vogelfüttern für die Entwicklung der längeren Schnäbel verantwortlich ist. Aber der Verdacht liegt doch sehr nahe“, sagt Spurgin.
Bessere Fitness
Falls die Vögel mit den längeren Schnäbeln in England wirklich Zugang zu mehr Nahrung haben, weil sie besser an die vom Menschen dargebotenen Körner kommen, müsste sich das auch auf die Fitness der Tiere auswirken. Um das zu überprüfen, schaute sich das Team Vögel mit einer besonders auffälligen Variante im Gen COL4A5 genauer an. Denn diese Mutation schien den meisten Einfluss auf die Schnabellänge zu haben.
Dabei zeigte sich: Kohlmeisen mit dieser Genvariante pflanzten sich in England deutlich erfolgreicher fort als ihre Artgenossen. In den Niederlanden beeinflusste dieses Merkmal den Fortpflanzungserfolg der Vögel dagegen nicht. Das ist den Forschern zufolge ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier die natürliche Selektion am Werk ist.
Evolution im Garten
Bosses Team ist nun dabei, auch ins Genom von Kohlmeisen in anderen europäischen Ländern zu blicken. Schon jetzt scheint sich zu bestätigen, dass der lange Schnabel ein einzigartiges Merkmal der britischen Vögel ist. Um faszinierende Ergebnisse der Evolution zu sehen, bedarf es also längst nicht mehr einer weiten Reise aufs Galapagos-Archipel. Mancherorts reicht ein Blick in den eigenen Garten. (Science, 2017; doi: 10.1126/science.aal3298)
(Science/ University of East Anglia, 20.10.2017 – DAL)
20. Oktober 2017