Paradoxer Effekt: Obwohl die Arktis wärmer wird, driften immer mehr Eisberge nach Süden – und gefährden die Schifffahrt im Nordatlantik. Im letzten Jahr blieben dadurch Schiffe sogar mitten im Sommer im Treibeis stecken. Den Grund dafür haben nun Forscher aufgedeckt: Normalerweise halten massive Eisbarrieren das Treibeis im Nordpolarmeer zurück. Doch durch den Klimawandel bleiben immer mehr arktische Meerespassagen offen – und die Eisberge können weit nach Süden driften.
Der Klimawandel erwärmt die Arktis schneller als jede andere Region der Erde – mit entsprechenden Folgen. Das Meereis schrumpft seit Jahren und erreicht sowohl im Sommer als auch im Winter immer wieder Negativrekorde. Gleichzeitig wird das arktische Meereis saisonaler, die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten verschärfen sich. Die früher nahezu ganzjährig vereisten Nordost- und Nordwestpassagen werden dadurch zunehmend von Schiffen passierbar – wenn nicht Treibeis den Weg versperrt.
Treibeis im Sommer
Doch der Sommer 2017 schien den Klimawandel Lügen zu strafen – zumindest an der Ostküste Kanadas. Denn während die Küstengebiete von Neufundland normalerweise spätestens Anfang Mai eisfrei sind, stauten sich dort noch im Juni dichte Treibeis-Teppiche. Zahlreiche Schiffe wurden vom Eis eingeschlossen, zwei Fischerboote sanken sogar, als Eischollen ihren Rumpf durchbohrten.
„Als wir das Gebiet am 2. Juni erreichten, begegneten wir komprimiertem Packeis, das aus Eisschlamm, Eisbruchstücken, bis zu 100 Meter großen Eisschollen und mittelgroßen Eisbergen von bis zu 15 Metern Höhe bestand“, berichten David Barber von der University of Manitoba und seine Kollegen. Von ihrem Forschungs-Eisbrecher aus nahmen sie Eisproben, führten per Drohnen Erkundungsflüge durch und analysierten die Eiszusammensetzung.
Das Ziel der Wissenschaftler: Herauszufinden, woher dieses ungewöhnliche Treibeis stammte und warum es so spät und so weit südlich aufgetaucht war.
3.000 Kilometer Driftweg
Das überraschende Ergebnis: Das Treibeis war nicht lokalen Ursprungs. Die Eisanalysen enthüllten, dass die Eisschollen aus der gut 3.000 Kilometer weiter nördlich liegenden Lincoln See stammten – einem Meeresgebiet im Norden von Grönland. Von dort aus war das Meereis durch Nares-Meerenge, dann die Baffin Bay und die Labradorsee bis vor Neufundland gedriftet. Das Eis bestand zudem vorwiegend aus mehrjährigem Meereis, wie es für die hohe Arktis typisch ist.
„Wir schätzen, dass das Treibeis rund 32 Wochen von der Lincoln-See bis nach Neufundland unterwegs war“, berichten die Forscher. Das aber bedeutet, dass diese Eisschollen und Eisberge die Nares-Meerenge mitten im Winter passiert haben müssen – zu einer Zeit, in der diese enge Meeresstraße normalerweise von einer dicken Eisbarriere verschlossen ist.
Fehlende Eisbarriere und zwei Zyklone
Doch genau diese Eisbarriere fehlte im Winter 2016/2017 – und das nicht zum ersten Mal. Bereits 2007 und 2008 hatten Eisforscher festgestellt, dass die Nares-Strait offen geblieben war. Und auch in diesen Jahren drang das Treibeis ungewöhnlich weit nach Süden vor. Ähnlich war es auch 2017: Weil die Nares-Meerenge durchlässig blieb, konnte das Meereis aus dem Nordpolarmeer ungehindert und in großen Mengen in die Baffin Bay und von dort aus weiter nach Süden driften.
Verstärkt wurde die Eisdrift wurde dies noch durch die Wetterbedingungen im Frühjahr: „Zwei Zyklone zogen im späten März und frühen April an Neufundland vorbei und trieben die Eisschollen nahe an die Küste“, berichten Barber und seine Kollegen. „Dadurch konnte die Eisdecke dort bis Ende Juni erhalten bleiben.“
Künftig noch häufiger
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten solche ungewöhnlichen Treibeis-Schwemmen im Nordatlantik künftig regelmäßig auftreten. Denn die Erwärmung der Arktis verhindert immer häufiger, dass sich die Eisbarrieren in der Nares-Meerenge und anderen Engstellen des Nordpolarmeeres bilden. Für das Eis ist dadurch der normalerweise blockierte Weg nach Süden frei.
„Das ist eine paradox erscheinende Konsequenz der sich erwärmenden Arktis und einer schwindenden Meereisdecke“, konstatieren die Forscher. „In Zukunft müssen wir auf solche Eisvorstöße besser vorbereitet sein, denn wir erwarten, dass dieses Phänomen noch mehrere Jahrzehnte lang auftreten wird – bis die Arktis im Sommer komplett eisfrei ist.“
Die kanadische Küstenwache jedenfalls will gewappnet sein: Sie will künftig mehr als nur einen Eisbrecher an der Küste von Neufundland stationieren – auch das auch noch im Mai und Juni. (Geophysical Research Letters, 2018; doi: 10.1002/2017GL076587)
(American Geophysical Union, 21.03.2018 – NPO)