Medizin

„Geheime“ Tunnel in unserem Schädel

Neuentdeckte Kanälchen führen vom Schädel-Knochenmark bis ans Gehirn

Mikroskopbild der neuentdeckten Schädeltunnel zwischen Knochenmark und Gehirn - hier bei einer Maus. © Fanny Herisson/ Massachusetts General Hospital

Überraschende Entdeckung: In unserem Schädel existieren zuvor unerkannte Mikrotunnel, wie Forscher herausgefunden haben. Diese Gänge ziehen vom Knochenmark des Schädels nach innen bis an die Hirnhaut. Bei Entzündungen oder einem Schlaganfall dienen diese Mikrotunnel offenbar als Abkürzung für bestimmte Immunzellen, wie Beobachtungen nahelegen. Auf diesem Wege könnten aber auch andere Zellen oder sogar Krankheitserreger bis ans Gehirn gelangen, so die Forscher im Fachmagazin „Nature Neuroscience“.

Eigentlich ist unser Gehirn nach außen hin fast perfekt isoliert: Die äußere Panzerung bildet dabei der harte Schädelknochen, der wiederum innen durch die Hirnhäute vom Gehirn getrennt ist. In Kontakt mit dem restlichen Körper steht das Gehirn über die Nerven und die Blutgefäße, die das Gehirn versorgen. Doch selbst sie sind durch die Blut-Hirn-Schranke vom eigentlichen Gehirn abgetrennt. Sie lässt nur bestimmte Moleküle und Botenstoffe passieren – beispielsweise, wenn nach einem Schlaganfall Immunzellen an die geschädigten Orte strömen müssen.

Vom Knochenmark an den Einsatzort

Doch wie sich nun zeigt, gibt es noch eine Abkürzung ins Gehirn. Für ihre Studie hatten Fanny Herisson von der Harvard Medical School in Boston und ihre Kollegen untersucht, wie und woher ein bestimmter Typ von Abwehrzellen nach einem Schlaganfall ins Gehirn einwandert. Diese sogenannten Neutrophilen sind ein Typ weißer Blutkörperchen. Sie werden im Knochenmark gebildet und gelten sozusagen als „Ersthelfer“ im Schadensfall.

„Wir haben bisher gedacht, dass das Knochenmark des gesamten Körpers auf eine Infektion oder einen Schaden reagiert“, sagt Koautor Mathias Nahrendorf von Harvard Medical School. Gängiger Lehrmeinung nach werden die Neutrophilen dann über das Blut an ihre Wirkorte gebracht – beispielsweise das Gehirn. Doch als die Forscher Neutrophile im Knochenmark von Mäusen mit einem Farbstoff markierten und deren Bewegungen bei einem Schlaganfall verfolgten, zeigte sich etwas ganz anderes.

Abkürzung ins Gehirn

Zum Erstaunen der Forscher kamen die meisten Immunzellen im geschädigten Gehirn der Mäuse direkt von nebenan: Sie stammten aus dem Knochenmark des Schädels, wie die Farbmarker bewiesen. Die großen Markknochen der Beine trugen dagegen kaum zu den neutrophilen „Ersthelfern“ im Gehirn bei. „Das deutet darauf hin, dass diese Immunzellen eine Art Abkürzung nehmen müssen“, sagen die Forscher.

ihr Verdacht: Statt den Umweg über die Blutgefäße und das Herz zu nehmen, scheinen die Immunzellen direkt vom Schädelknochen ins Gehirn gelangt zu sein – aber wie? Um das herauszufinden, untersuchten die Wissenschaftler mithilfe eines Mikroskops die Feinstruktur des Schädelknochens. „Wir haben die Schädel sehr sorgfältig untersucht, aus allen Winkeln, um herauszufinden, wie die Neutrophilen ins Gehirn gelangen konnten“, erklärt Nahrendorf.

Mikro-Computertomografie der Knochentunnel, die vom Knochenmark des Schädels bis an die äußere Hirnhaut reichen. © Gregory Wojtkiewicz/ Massachusetts General Hospital

Winzige Tunnel im Schädelknochen

Das überraschende Ergebnis: „Wir entdeckten winzige Kanälchen, die das Knochenmark direkt mit der äußeren Haut des Gehirns verbinden – das war völlig unerwartet“, so Nahrendorf. Bei den Mäusen hatten diese Knochentunnel einen Durchmesser von knapp 22 Mikrometern und in ihnen waren eindeutig Neutrophile nachweisbar, wie die Forscher berichten. Diese Immunzellen bewegten sich in den Kanälchen gegen die Fließrichtung des Blutes auf das Gehirn und die vom Schlaganfall geschädigten Bereiche zu.

„Normalerweise bildet die harte Hirnhaut eine unpassierbare Barriere“, erklären die Forscher. „Doch nach dem Schlaganfall beobachteten wir die Immunzellen sowohl in den Knochenkanälen als auch in der Dura. Das spricht dafür, dass die Neutrophilen dann direkt ins Gehirn wandern können – und möglicherweise gilt dies auch für andere Zellen oder Krankheitserreger.“

Mikrotunnel auch beim Menschen

Das Spannende daran: Diese Mikrotunnel existieren nicht nur in den Schädeln von Mäusen, sondern auch bei uns Menschen. Das zeigte sich, als die Forscher Schädelteile von drei Patienten untersuchten, denen bei Operationen zur Druckentlastung des Gehirns vorübergehend der Schädel geöffnet werden musste. „In allen drei Proben identifizierten wir ähnliche Kanälchen – wenngleich ihr Durchmesser rund fünfmal größer war als bei den Mäusen“, berichten Herisson und ihre Kollegen.

Nach Ansicht der Forscher eröffnet die Entdeckung dieser Kanäle ganz neue Forschungsfragen. „Wir müssen noch eine Menge über diese Tunnel lernen“, sagt Nahrendorf. „Offenbar haben sie eine ganz andere Rolle als gewöhnliche Gefäße. Sie scheinen als direkte Leitungen für die Kommunikation zwischen dem zentralen Nervensystem und dem Knochenmark zu dienen.“

Die Wissenschaftler vermuten, dass die Mikrotunnel nicht nur bei akuten Schäden wie nach einem Schlaganfall als Abkürzung für Immunzellen dienen, sondern auch bei chronischen Erkrankungen wie Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten. „Da viele Hirnerkrankungen eine entzündliche Komponente haben, wäre es wichtig herauszufinden, wie die Kanälchen zu diesen Krankheiten beitragen und ob ihre Beeinflussung den Verlauf verändern kann“, sagt Nahrendorf. (Nature Neuroscience, 2018; doi: 10.1038/s41593-018-0213-2)

(Massachusetts General Hospital, NIH/National Institute of Neurological Disorders and Stroke, 28.08.2018 – NPO)

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