Mittelalterliches Mysterium: Im Straßburger Münster scheint genau zum Frühlings- und Herbstanfang ein „grüner Strahl“ direkt auf eine Christusfigur an der Kanzel. Bisher galt dieser Lichteffekt als bloßer Zufall. Doch nun belegt ein Symbolforscher: Die mittelalterlichen Baumeister richteten Kirchenfenster, Kanzel und Christusfigur absichtlich so aus, dass das grüne Leuchten zur Tagundnachtgleiche eintritt. Ähnliches gilt für einen „weißen Strahl“ zur Wintersonnenwende.
Bald ist es wieder soweit: Wie immer zum Frühlings- und Herbstanfang kommt es im Straßburger Liebfrauenmünster am 23. September zu einem besonderen Lichtphänomen: Um die Mittagszeit schießt ein kräftig grüner Lichtstrahl quer durch das weite Kirchenschiff. Punktgenau beleuchtet er in nacheinander den Gekreuzigten und einige Begleitfiguren auf der spätgotischen Münsterkanzel aus dem Jahr 1485. Zur Wintersonnwende am 21. Dezember wiederholt sich das Schauspiel – dann aber mit einem weißen statt einem grünen Lichtstrahl.
Grünes Licht von Judas Schuh
Doch was hat es mit diesem Lichteffekt auf sich? Diese Frage ist seit langem heiß umstritten: „Während die einen darin ein astrologisches Symbol aus dem Mittelalter vermuten, behaupten die anderen, dass es sich hierbei um ein modernes, rein zufällig entstandenes Phänomen handelt“, erklärt der Symbolforscher und Oliver Wießmann. Er hat die historischen, religiösen und architektonischen Hintergründe des Lichteffekts umfassend erforscht.
Klar ist: Der grüne Strahl kommt von einem der Seitenfenster, die der Kanzel gegenüber liegen. Im Glasmosaik dieses Kirchenfensters deutet König Juda mit dem Finger auf einen seiner grünen Schuhe, während er seinen Kopf nach oben in Richtung Sonne wendet. Das grüne Schuhglas ist es, das zweimal im Jahr für rund 20 Minuten den Lichtstrahl erzeugt. Doch ist dies nur einer von vielen zufälligen Lichteffekten der bunten Fenster oder doch eine Illuminierung mit tieferer Botschaft?
Eichwerkzeug für Kirchenuhr?
Den Zusammenhang mit den Äquinoktien hat erst der Straßburger Vermessungsingenieur Maurice Rosart in den 1970er Jahren erkannt und bekannt gemacht. Rosart vermutete damals im Lichteffekt ein mittelalterliches Eichwerkzeug – beispielsweise für eine der großen Uhren im Kirchengebäude. Doch offiziell gilt der Effekt bis heute als bloßer Zufall. Der grüne Schuh des Juda wurde im 19. Jahrhundert sogar zeitweilig überklebt, um den Strahl zu blockieren.
Jetzt hat Wießmann Indizien dafür zusammengetragen, dass die Kirchenbaumeister des Mittelalters den grünen Strahl sehr wohl beabsichtigt hatten und ihre Konstruktion entsprechend anpassten – was für die damalige Zeit keine Seltenheit war. „Solche artifiziell erzeugten Lichtstrahlen finden sich häufig in der sakralen Architektur. Bekannt ist zum Beispiel der am 21. Juni in Erscheinung tretende Lichtstrahl in der Kathedrale Notre-Dame von Chartres“, erklärt Wießmann.
Astronomische Zyklen und die Theologie der Bauhütten
Einen Hinweis lieferten dem Forscher die Konstrukteure selbst: „Die Bauhütten stellten im Mittelalter eine eigene geschlossene Kaste dar und besaßen Souveränität“, erklärt er. „Innerhalb
ihrer Kreise hüteten sie eine besondere Tradition. Dort bewahrten und pflegten sie ein Wissen, das heute als Antike Theologie benannt wird und teilweise als Gnosis zu bezeichnen ist.“ In dieser Theologie spielten die Natur, Astronomie und ihre Zyklen eine wichtige Rolle.
Die Markierung von astronomische bedeutsamen Daten wie der Tagundnachtgleiche oder der Sonnenwende, aber auch die Verwendung astrologisch-astronomischer Symbolik im Kirchenbau war daher für die Dombaumeister des Mittelalters ganz normal. Indizien, dass diese auch beim Straßburger Münster der Fall war, finden sich unter anderem an den Verzierungen des Hauptportals, wie Wießmann erklärt. In einem erhaltenen Dokument des ursprünglichen Kanzelentwurfs gebe es zudem bereits Verweise auf den grünen Lichtstrahl.
Verschobene Achse
Auffallend auch: Die Hauptachse der Kathedrale ist nicht wie sonst oft üblich genau in Ost-West-Richtung ausgerichtet. Stattdessen weicht sie um 30 Grad von dieser Richtung ab. Einer der Beweggründe der Dombaumeister für diese Abweichung könnte gewesen sein, die Kirche auf das Sternbild Virgo – Jungfrau – auszurichten, das sie der Gottesmutter Maria zuordneten.
Gleichzeitig kann nur dadurch die Sonne zur Tagundnachtgleiche überhaupt durch das Kirchenfester fallen und den Strahl erzeugen. Ein zweiter Strahl aus weißem Licht fällt genau zur Wintersonnenwende am 21. Dezember auf die Kanzel und illuminiert ebenfalls wie ein Zeiger nacheinander die darauf abgebildeten Figuren.
Einen Beleg dafür, dass der grüne Strahl – entgegen vorherigen Annahmen – schon im Mittelalter existierte, fand Wießmann auch in alten Predigten und Schriften des Johann Geiler von Kaysersberg. Dieser Theologe, für den die Kanzel erbaut worden war, bezog sich in einigen seiner Reden bereits auf den grünen Strahl. Nach Ansicht des Symbolforschers spricht daher einiges dafür, dass der grüne Strahl keineswegs Zufall ist, sondern eine alte, bewusste Rauminstallation darstellt.
(Salier Verlag, 13.09.2018 – NPO)