Rätselhafter Umbau: Die Evolution unserer frühen Säugetier-Vorfahren könnte erst durch eine Miniaturisierung möglich geworden sein. Denn nur die geringe Körpergröße verringerte die Kaubelastung ihrer Kiefer genügend, um diese quasi „im laufenden Betrieb“ umzubauen, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Aus dem vielteiligen Reptilienkiefer wurden so vor rund 200 Millionen Jahren die Gehörknöchelchen und der nur noch einteilige Säugetier-Unterkiefer.
Vor rund 200 Millionen Jahren bahnte sich eine umwälzende Veränderung bei den Vorläufern der ersten Säugetiere an: Die Knochen ihrer bis zu siebenteiligen Reptilien-Unterkiefer verlagerten sich und verschmolzen. Im Laufe von rund 100 Millionen Jahren entstanden so der typische Unterkiefer und die Gehörknöchelchen der Säugetiere. Dabei bildete sich ein neues Kiefergelenk, das alte Reptiliengelenk verschwand und ein Teil der alten Kieferknochen wurden zu Hammer, Amboss und Steigbügel – zu den entscheidenden Komponenten unseres Gehörs.
„Die Evolution des Säugetierkiefers ist eine der wichtigsten Innovationen in der Geschichte der Wirbeltiere“, konstatieren Stephan Lautenschlager von der University of Birmingham und sein Team. „Der Säugetierkiefer und ihr Kiefergelenk sind einzigartig unter den Vertebraten.“
Rätselhaftes Paradox
Das Rätselhafte jedoch: Dieser umfangreiche Umbau fand schrittweise und am lebenden Objekt statt. „Noch während die postdentalen Knochen als Kiefergelenk dienten, wurden sie kleiner und bewegten sich vom Gelenk weg“, erklären die Forscher. Dadurch wurden diese Knochen immer weniger belastbar. „Das weckt die zentrale Frage, wie der Kiefer dieser Ur-Säuger trotz dieser Transformation stabil genug für starke Kaubelastungen bleiben konnte“, so die Forscher. „Darüber rätseln Paläontologen schon seit mehr als 50 Jahren.“
Um eine Antwort zu finden, haben nun Lautenschlager und sein Team die Kieferknochen von sechs Schlüsselarten am Übergang von Reptilien zu Säugetieren untersucht. Anhand der Anatomie erstellten sie für jede Art biomechanische Modelle, an denen sie Knochenstärke, Kaukräfte und Verformung der Kiefer analysierten. In Simulationen testeten sie dann, welche Veränderungen das Paradox von Umwandlung und Stabilität am ehesten lösen konnte.
Miniaturisierung bringts
Das Ergebnis: Der einzige Weg für die Ur-Säuger, um trotz Umbau genügend Kaukraft zu bekommen, war die Verringerung ihrer Körpergröße. Denn durch diese Miniaturisierung sank die Belastung, die beim Kauen auf ihre Kieferknochen wirkte, überproportional stark. „Bei einer Größenverringerung um die Hälfte sanken die absoluten Kräfte auf das Kiefergelenk und die Kompression exponentiell auf nur noch 25 Prozent“, berichten die Forscher.
„Klein zu werden könnte für unsere Säugetier-Vorfahren entscheidend gewesen sein“, sagt Lautenschlager. „Denn erst das erlaubte es ihnen, die Belastung ihrer Kiefer während des Fressens gering zu halten und so die Umstrukturierung ihrer Kiefer zu überstehen.“ Weil die kleinen Ur-Säuger vorwiegend Insekten fraßen, benötigten sie in dieser Zeit keine starken Kiefer – und das machte den Weg frei zur Entwicklung der Gehörknöchelchen.
Durch Fossilien bestätigt
„Unsere Ergebnisse liefern eine neue Erklärung dafür, wie sich der Säugetierkiefer vor mehr als 200 Millionen Jahren entwickelte“, sagt Lautenschlager. Bestätigt werden die biomechanischen Modelle der Forscher durch Fossilfunde aus dieser Zeit: Auffallend viele Übergangsformen von säugetierähnlichen Reptilien zu den echten Säugetieren waren kleine Insektenfresser. Nach Ansicht der Wissenschaftler war dies kein Zufall.
„Das spricht dafür, dass erst die Miniaturisierung einen selektiven Rahmen für die Evolution des Säugetier-Kiefergelenks schuf, in dessen Folge die postdentalen Knochen zum Mittelohr der Säugetiere wurde“, so die Forscher. (Nature, 2018; doi: 10.1038/s41586-018-0521-4)
(University of Birmingham, 18.09.2018 – NPO)