Physik

„Unmögliche“ Neutrino-Signale?

Extrem energiereiche Teilchenspuren lassen sich nicht mit dem Standardmodell erklären

Nachdem schon der IceCube-Detektor eine ungewöhnlich energiereiche Teilchenspur eingefangen hat, hat jetzt der Ballon-Detektor ANITA zwei weitere registriert. Alle drei scheinen dem Standardmodell der Teilchenphysik zu widersprechen. © NASA

Widerspruch zum Standardmodell? Zwei am Südpol detektierte Teilchenspuren geben Physikern Rätsel auf. Denn diese Neutrino-Signale waren energiereicher als alle zuvor registrierten und kamen von unten durch die Erde. Das Seltsame daran: Diese Kombination von Energie und Durchdringkraft besitzt keines der aus dem Standardmodell bekannten Teilchen, wie eine Analyse von US-Forschern nun ergeben hat. Ihrer Ansicht nach müssen diese Ereignisse daher von einem noch unbekannten Partikel oder Prozess verursacht worden sein.

In der Antarktis – weit entfernt von menschlichen Störquellen – fahnden gleich mehrere Detektoren nach Neutrinos. Diese fast masselosen „Geisterteilchen“ rasen in jeder Sekunde milliardenfach durch unseren Körper und interagieren kaum mit normaler Materie. Ihre Quellen sind katastrophale kosmische Ereignisse wie Supernovae oder Gammastrahlen-Ausbrüche, aber auch unsere Sonne und der radioaktive Zerfall von Elementen.

Rätselhafte Teilchenspur

Doch je höher die Energie eines Neutrinos ist, desto mehr nimmt auch sein virtueller Durchmesser und damit die Kollisionswahrscheinlichkeit mit einem Atomkern zu. Das haben erst vor gut einem Jahr Daten des antarktischen Neutrino-Observatoriums IceCube bestätigt. Extrem schnelle und damit energiereiche Neutrinos schaffen es demnach nur selten, die Erde ungehindert zu durchdringen.

Umso seltsamer ist ein Ereignis, über das IceCube-Forscher im Sommer 2018 berichteten: Es handelt sich um die Zerfallspur eines Teilchens mit der enormen Energie von 2,6 Petaelektronenvolt (PeV)– deutlich mehr als alle bisher bekannten Ereignisse. Noch merkwürdiger: Die Spur kam von unten und damit durch die Erde. Welche Teilchen dieses Signal erzeugt haben könnten, blieb bisher rätselhaft.

Spuren eines energiereichen Neutrinos im IceCube-Detektor. © IceCube Collaboration

„Unmöglich“ hohe Energien

Jetzt berichten Physiker um Derek Fox von der Pennsylvania State University von zwei weiteren Neutrino-Signalen, die in ihren Augen mit herkömmlicher Physik nicht erklärbar sind. Aufgefangen hat sie die Antarctic Impulsive Transient Antenna (ANITA), eine Ballonantenne, die mehrere Messflüge in mehr als 30 Kilometern Höhe über der Antarktis absolvierte. Bei diesen Flügen registrierte die Antenne ebenfalls zwei ungewöhnliche Teilchensignale.

Die beiden Ereignisse erreichten die enorme Energie von 0,6 Exaelektronenvolt (EeV) und waren damit um gut 200-fache stärker als die IceCube-Rätselsignale. Das Seltsame aber: „Beide Teilchenschauer kamen von deutlich unterhalb des Horizonts“, berichten Fox und seine Kollegen. „Sie werden daher als Schauer kosmischer Strahlung interpretiert, die von unten durch die Erde gekommen sind.“

„Nicht mit dem Standardmodell erklärbar“

Das aber bedeutet: Auch diese beiden Spuren stammen von Teilchen, die wegen ihrer enormen Energie die Erde gar nicht passieren dürften. „Kein Teilchen des Standardmodells kann bei diesen Energien die rund 5.700 Kilometer durch die Erde hindurch zurücklegen und die Passage überstehen“, konstatieren Fox und sein Team. Zwar könne ein Tau-Neutrino bei einer Erddurchquerung durch Kollision mit einem Atomkern ein energiereiches Tau-Lepton erzeugen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses so hohe Energien erreicht, sei aber extrem gering.

Wie wahrscheinlich es ist, dass ein bekanntes Teilchen diese beiden Ereignisse verursacht hat, haben die Physiker für ihre Studie durchgerechnet. Ihr Ergebnis: Die Chance, dass diese Signaturen durch ein Mitglied im Standardmodell der Teilchenphysik erzeugt wurden, liegt bei weniger als 1 zu 3,5 Millionen. Anders ausgedrückt: „Wir haben Standardmodell-Szenarios mit einem Konfidenz-Niveau von 7 und 5,8 Sigma ausgeschlossen“, so die Forscher.

Auf Twitter postete Derek Fox vor wenigen Tagen dazu: „Leute, ich glaube, einige Kollegen und ich haben gerade das Standardmodell geknackt.“

Erstes Indiz für Supersymmetrie?

Was aber hat dann diese Signaturen erzeugt? Nach Ansicht der Forscher könnten die beiden von ANITA-detektierten Ereignisse und die IceCube-Signatur ein erster Hinweis auf eine Physik jenseits des Standardmodels sein. Konkreter gesagt: Sie vermuten darin das lange erhoffte Indiz für eine Supersymmetrie – und damit für exotische, schwere Partnerteilchen des bisher bekannten Teilchenzoos.

ANITA-Detektor vor dem Ballonstart. © Drummermean/ CC-by-sa 4.0

„Die Eigenschaften des postulierten Nichtstandard-Teilchens stimmen mit denen überein, die für das S-Tau-S-Lepton in einige Supersymmetriemodellen vorhergesagt werden“, sagen Fox und seine Kollegen. Dieses zweitleichteste Supersymmetrie-Teilchen kann demnach entstehen, wenn extrem energiereiche Neutrinos mit Atomkernen interagieren. Ein solcher Prozess wurde bereits vor gut 30 Jahren von Physikern prognostiziert, wie die Forscher erklären.

„Das S-Tau kann die Erde mit minimalen Energieverlusten passieren und würde dann in ein Tau-Lepton mit Energien im Exa- bis Petaelektronenvolt-Bereich zerfallen“, erklären die Physiker. Teilchensignaturen genau dieser Energien haben IceCube und ANITA gemessen.

Und jetzt?

Noch ist dieses Szenario wenig mehr als Spekulation. Dennoch halten auch andere Physiker die Schlussfolgerungen von Fox und seinem Team zumindest zum Teil für durchaus plausibel. „Das ist die erste systematische Kalkulation zu diesen Ereignissen – und die Ergebnisse sprechen stark gegen eine Erklärung nach dem Standardmodell“, kommentierte unter anderem Mauricio Bustamante von der Universität Kopenhagen im Magazin „Livescience“.

In jedem Falle sind weitere solche Extremenergie-Signaturen nötig, um die wahre Natur dieser rätselhaften Teilchenspuren zu ergründen, wie auch Fox und sein Team einräumen. Sie vermuten, dass sich bei systematischer Durchforstung der Datenarchive von IceCube noch mehr ähnliche Ereignisse finden, die zuvor übersehen wurden. (arXiv:1809.09615)

(arXiv, Livescience, 01.10.2018 – NPO)

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