Neurobiologie

Wie viele Gesichter kennen wir?

Jeder Mensch hat im Schnitt rund 5.000 Gesichter gespeichert

Bekannt oder unbekannt? © Bowie15/ iStock.com

Ob Zuhause, auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Fernsehbildschirm: Jeden Tag begegnen uns unzählige Gesichter. 5.000 davon kann jeder Mensch dabei im Schnitt auch zuordnen, berichten Forscher. Sie haben untersucht, wie viele Gesichter wir aus unserem Alltag kennen – egal ob Mutter, Busfahrer oder Politiker. Ihre Studie zeigt aber auch: Die Zahl der bekannten Gesichter ist von Person zu Person sehr unterschiedlich.

Unsere Vorfahren lebten jahrtausendelang in kleinen sozialen Gruppen zusammen. Von Familienangehörigen, bis hin zu Stammesmitgliedern oder Dorfbewohnern: Selten umfasste die Gemeinschaft dabei mehr als hundert Individuen. Mit der Entwicklung unserer modernen Gesellschaften hat sich das jedoch drastisch verändert. Heute leben immer mehr Menschen auf engem Raum miteinander. Zusätzlich tragen auch die Medien und soziale Netzwerke wie Facebook dazu bei, dass wir im Alltag mehr und mehr Personen begegnen – wenn auch nicht unbedingt persönlich.

„Dadurch ist der Mensch einer großen Anzahl von Gesichtern ausgesetzt und muss ständig unterscheiden: Kenne ich diese Person oder nicht?“, schreiben Wissenschaftler um Rob Jenkins von der University of York. Studien deuten darauf hin, dass wir theoretisch kognitiv dazu in der Lage sind, uns sehr viele Gesichter zu merken. Doch wie viele Gesichter kennen wir im Schnitt tatsächlich? Dieser bisher noch nie untersuchten Frage haben sich Jenkins und seine Kollegen nun gewidmet.

Vom Freund bis zum Busfahrer

„Wie bei Schätzungen aus anderen Bereichen auch – zum Beispiel der Zahl der auf der Erde lebenden Spezies – ist die mögliche Genauigkeit bei unserer Fragestellung naturgemäß begrenzt. Wir wollten aber zumindest eine sinnvolle Annäherung erreichen“, berichten die Forscher. Zu diesem Zweck luden sie 25 Probanden im Alter zwischen 18 und 61 Jahren zu einem aufwändigen Test ein: Die Teilnehmer bekamen zunächst eine Stunde Zeit, um alle Gesichter aufzuschreiben, die sie aus ihrem direkten sozialen Umfeld kennen – ob Freunde, Kollegen, die Verkäuferin im Supermarkt, den Busfahrer oder den Hausarzt.

Als Hilfestellung wurde ihnen dabei eine Excel-Datei zur Verfügung gestellt, in der bereits Kategorien für mögliche Bekanntschaften aufgelistet waren. Alles, was die Probanden dort eintrugen, wurde im Fünf-Minuten-Takt abgespeichert. Dabei zeichnete sich ab: Während zu Beginn in kurzer Zeit viele neue Gesichter hinzukamen, wurde dies mit fortschreitendem Verlauf immer weniger. Diese Zahlen nutzten Jenkins und seine Kollegen für eine Extrapolation: Wie viele Gesichter hätten die Teilnehmer wahrscheinlich aufgeschrieben, wenn sie unbegrenzt Zeit gehabt hätten?

Stars und Sternchen

Ganz ähnlich gingen die Forscher bei einem zweiten Durchgang vor. Allerdings fragten sie ihre Versuchspersonen diesmal nach Gesichtern, die diese nicht durch direkte Begegnungen kannten – sondern, weil sie einer berühmten Person gehörten: zum Beispiel einem Politiker, einem Schauspieler oder Musiker. Um die Motivation der Probanden hochzuhalten, wurde ihnen zudem eine leistungsabhängige Belohnung versprochen.

Doch spiegelt die Zahl der Gesichter, an die wir uns in einem solchen Moment erinnern auch jene Zahl wieder, die wir im Alltag wiedererkennen würden? Wohl kaum: „Es gibt wahrscheinlich viele Gesichter, die unsere Teilnehmer sehr gut kennen, die ihnen im Test aber nicht eingefallen sind“, schreiben die Wissenschaftler. Deshalb zeigten sie den Probanden anschließend Bilder weiterer berühmter Personen. Diese Ergebnisse nutzten sie, um eine „Erinnern-Erkennen-Rate“ zu berechnen. Demnach kamen auf jedes aufgeschriebene Gesicht im Schnitt noch einmal 4,62 weitere Gesichter, die im Bildertest erkannt wurden.

Individuelle Unterschiede

Diese Rate kombinierten Jenkins und sein Team schließlich mit den Ergebnissen aus beiden Versuchsdurchgängen, um die Gesamtzahl der pro Person bekannten Gesichter abzuschätzen. Dabei kamen sie zu folgendem Resultat: Die durchschnittliche Zahl der bekannten Gesichter liegt bei rund 5.000. Doch es gibt große individuelle Unterschiede, wie sie berichten. So rangierte die Zahl bei den Studienteilnehmern zwischen 1.000 und 10.000.

Aus den Ergebnissen der Forscher ergeben sich nun interessante Fragen: Warum etwa ist die Zahl der bekannten Gesichter so unterschiedlich? Liegt es an kognitiven Faktoren, zum Beispiel dass der eine Gesichter visuell anders verarbeitet und speichert als der andere? Oder ist die soziale Umgebung schuld: Wer begegnet in seinem Leben besonders vielen Menschen, wer wohnt in dicht besiedelten Gebieten oder ist häufig in den sozialen Medien unterwegs?

Tatsächlich könnten sich beide Faktoren sogar bedingen, wie Jenkins und seine Kollegen spekulieren. So wie das Vokabular die Sprachfähigkeiten beeinflusst, könnte sich die Zahl der „Gesichtsbegegnungen“ demnach auf die Fähigkeit auswirken, sich das Antlitz von Menschen zu merken. (Proceedings of the Royal Society B, 2018; doi: 10.1098/rspb.2018.1319)

(Royal Society, 10.10.2018 – DAL)

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