Verworrene Wurzeln: Die Frühgeschichte Südamerikas ist komplexer als bisher angenommen. Denn nach der ersten Besiedlung folgten mindestens zwei weitere, zuvor unbekannte Einwanderungswellen, wie DNA-Analysen enthüllen. Überraschend auch: Der genetische Einfluss der nordamerikanischen Clovis-Kultur reichte entgegen bisherigen Annahmen bis weit nach Südamerika hinein, wie Forscher in gleich zwei Fachartikeln in „Science“ und „Cell“ berichten. Sie liefern auch Neues über die Herkunft der rätselhaften „Paläoamerikaner“.
Die Besiedlung des amerikanischen Kontinents wirft bis heute Fragen auf. Klar scheint, dass die ersten Menschen vor 20.000 bis 15.000 Jahren aus Asien über die Beringstraße ins arktische Nordamerika kamen. Doch ob diese Einwanderung einmalig oder in mehreren Wellen geschah und auf welcher Route diese ersten Indianer weiter nach Süden zogen, ist umstritten. Rätselhaft ist auch, warum einige prähistorische Tote eher europäisch aussehen, andere dagegen eher Südseebewohnern oder Aborigines ähneln. Schon in der Frühgeschichte Nordamerikas klaffen große Wissenslücken, doch die Entwicklung im Süden des Kontinents lag bisher fast völlig im Dunkeln.
Steinzeit-DNA aus ganz Amerika
Um mehr Klarheit zu schaffen, haben nun gleich mehrere Forscherteams DNA-Proben von bis zu 11.000 Jahre alten menschlichen Überresten aus Nord- und Südamerika vergleichend ausgewertet. Das Team um Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen analysierte dafür 15 Funde, darunter eine Inkamumie, einen 9.000 Jahre alten Milchzahn und die ältesten menschliche Überreste der Neuen Welt aus Patagonien.
Das Team um David Reich von der Harvard University und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte untersuchte 49 DNA-Proben von Toten, die vorwiegend in Mittel- und Südamerika gefunden worden waren und verglichen diese untereinander und mit heutigen Bewohnern des Kontinents. Diese Genanalysen bestätigten zunächst, dass alle Ureinwohner der Neuen Welt aus einer gemeinsamen Wurzel entsprungen sind.
Clovis-Verwandte tief im Süden
Doch dann gab es gleich mehrere Überraschungen. Die erste: Vor 11.000 bis 9000 Jahren begrabene Toten aus Brasilien, Chile und Belize zeigen große genetische Übereinstimmung mit einem Angehörigen der nordamerikanischen Clovis-Kultur – einem vor 12.800 Jahren in Montana begrabenen Kind. Diese Kultur galt bisher als nur auf Nordamerika beschränkt. „Wir haben daher nicht erwartet, Verwandte der Clovis-Menschen in Südamerika zu finden“, so die Forscher.
Bestätigt wird dies durch Ergebnisse von Willerslev und seinem Team. Denn auch sie fanden verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen dem Clovis-Kind und zwischen 10.400 und 9.800 Jahre alten Toten aus dem brasilianischen Lagoa Santa. Obwohl diese Orte tausende von Kilometern voneinander getrennt waren, sind alle Individuen genetisch verwandt. „Das stützt die Hypothese, dass sich Menschen aus dem Umfeld der Clovis-Kultur bis nach Mittel- und Südamerika ausbreiteten“, sagt Cosimo Posth vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Gleichzeitig muss diese Ausbreitung erstaunlich schnell stattgefunden haben.
Zwei unbekannte Einwanderungswellen
Die zweite große Überraschung: Bei der Besiedlung Südamerikas gab es mindestens zwei zuvor unbekannte Einwanderungswellen. Die erste muss sich vor rund 9.0000 Jahren ereignet haben und löste die mit Clovis verwandten Ureinwohner ab. „Wir sehen, dass es einen kontinentweiten Austausch der Bevölkerung gab“, sagt Reich. „Eine so weitreichende Umwälzung ist auch für die Archäologen unerwartet.“
Das genetische Erbe dieser großen Einwanderung ist bis heute in den meisten Indianern Südamerikas erhalten. „Es gibt eine bemerkenswerte Kontinuität zwischen den prähistorischen Skeletten und heutigen Südamerikanern“, sagt Posth. In den zentralen Anden jedoch fanden er und seine Kollegen Indizien für eine weitere, spätere Migrationswelle. Sie brachte Menschen nach Südamerika, die genetisch eng mit den heutigen Bewohnern einiger kalifornischer Inseln verwandt sind. Auch Willerslev und sein Team stießen auf Spuren einer zweiten, kleineren Einwanderung, deren Ursprung sie aber eher in Mittelamerika verorten.
Rätsel um „Paläoamerikaner“
Neues ergaben die DNA-Analysen auch über die Herkunft der sogenannten „Paläoamerikaner“ – der prähistorischen Individuen mit verblüffend europäischen oder australasischen Gesichtszügen. Einige im brasilianischen Lagoa Santa entdeckte Tote gehören dazu. Wegen dieses abweichenden Äußeren hielten es einige Forscher für möglich, dass diese Indianervorfahren von Einwanderern abstammten, die über den Seeweg aus Ozeanien gekommen waren.
Doch die neuen Untersuchungen widerlegen dies eindeutig. „Unsere Studie beweist, dass die Toten von Spirit Cave und Lagoa Santa genetisch enger mit heutigen Indianern verwandt sind als mit irgendeiner anderen urzeitlichen oder heutigen Population“, so Willerslev. „Die paläoamerikanische Schädelform ist demnach nicht mit einer australasischen Gensignatur verknüpft.“ Allerdings: Einer der Toten aus Lagoa Santa besaß genetische Ähnlichkeiten mit heutigen Bewohnern Ozeaniens. Woher er diese Gene hatte, bleibt vorerst ungeklärt.
Damit zeichnen die neuen Studien ein komplexes und teils widersprüchliches Bild der Besiedelung Amerikas. Und noch immer sind einige Fragen offen – auch aus Mangel an archäologischen Funden. „Es ist noch immer eine Region voller geografischer und chronologischer Löcher in unseren Daten“, sagt Reich. (Cell, 2018; doi: 10.1016/j.cell.2018.10.027; Science, 2018, doi: 10.1126/science.aav2621)
(Harvard Medical School, University of Cambridge, 09.11.2018 – NPO)