Rätselhafter Nachbar: Astronomen haben direkt hinter der Milchstraße einen zuvor unbekannten Begleiter entdeckt – eine ungewöhnlich große, dünnbesiedelte „Geistergalaxie“. Diese leuchtschwache Galaxie ist ein Drittel so groß wie die Milchstraße, aber erstaunlich massearm. Damit weicht sie von allen bisher bekannten Trabanten der Milchstraße ab und widerspricht den gängigen Theorien zur Galaxienbildung. Wie sie entstand, ist den Forschern ein Rätsel.
Unsere Milchstraße hat nicht nur nahe Nachbar wie die Magellanschen Wolken, sie ist auch von zahlreichen kleineren Satellitengalaxien umgeben. Diese Zwerggalaxien umfassen oft weniger als tausend massearme Sterne, enthalten dafür aber meist besonders viel Dunkle Materie. Zudem sind die Sterne in den bisher rund 60 bekannten Trabanten der Milchstraße meist sehr alt und metallarm.
Verräterische Sterne
Jetzt haben Astronomen um Gabriel Torrealba vom Institut für Astronomie und Astrophysik in Taipeh einen weiteren, äußerst ungewöhnlichen Begleiter der Milchstraße entdeckt. Sie hatten die Daten des Gaia-Satelliten der ESA gezielt nach veränderlichen Sternen durchsucht, die zu noch unbekannten Zwerggalaxien im Umfeld der Milchstraße gehören könnten. Diese sogenannten RR Lyrae-Sterne sind gut an ihrem Mangel an schweren Elementen und ihren regelmäßigen Pulsen zu erkennen.
„Solche RR Lyrae-Sterne wurden bisher in jeder bekannten Zwerggalaxie gefunden, daher waren wir zunächst nicht überrascht, als wir eine Gruppe dieser Sterne knapp über der galaktischen Scheibe der Milchstraße fanden“, berichtet Koautor Vasily Belokurov von der University of Cambridge. „Doch als wir uns ihre Positionen näher anschauten, zeigte sich, dass wir hier etwas völlig Neues gefunden hatten.“
Riesig groß, aber extrem dünn besiedelt
Die Sterne entpuppten sich als Teil einer zuvor unbekannten, sehr merkwürdigen Begleitgalaxie. Sie liegt nur rund 130.000 Lichtjahre von der Milchstraße entfernt, versteckt sich aber größtenteils hinter deren dichter Sternenscheibe. Das Seltsame nur: Die Antlia 2 getaufte Galaxie ist für eine Zwerggalaxie ungewöhnlich groß – ihre Größe entspricht der der Großen Magellanschen Wolke oder einem Drittel der Milchstraße.
Gleichzeitig aber ist die Galaxie gut 4.000 Mal lichtschwächer als die Magellansche Wolke und damit extrem dünn besiedelt. „Das ist eher der Geist einer Galaxie „, sagt Torrealba. „Objekte, die so diffus sind wie Ant 2 hat man noch nie zuvor gesehen.“ Die neuentdeckte „Geistergalaxie“ passt weder zu den normalen Galaxien wie der Milchstraße, noch zu den bisher bekannten Zwerggalaxien – sie ist ein echter Sonderling.
Widerspruch zu gängigen Theorien
Das Seltsame an dieser Galaxie: Normalerweise verlieren die Trabanten der Milchstraße im Laufe der Zeit einen Teil ihrer Sterne an unsere Heimatgalaxie, weil deren Schwerkraft sie an sich zieht. „Aber unerklärlich ist dann, warum Antlia 2 eine so enorme Größe hat“, sagt Koautor Sergey Koposov von der Carnegie Mellon University. Die Trabantengalaxie müsste schon bei ihrer Entstehung ein echter Riese gewesen sein, wenn sie trotz dieses Sternenklaus noch immer so ausgedehnt ist.
Wie die Astronomen erklären, widerspricht eine so große und dennoch lichtschwache Sternenansammlung allen gängigen Theorien der Galaxienbildung – so eine Galaxie ist darin schlicht nicht vorgesehen. Sie könne daher nur spekulieren, wie Antlia 2 entstanden sein könnte und warum sie heute so ist, wie sie ist.
Wie könnte Antlia 2 entstanden sein?
Eine Vermutung der Forscher: Möglicherweise haben vergangene Supernova-Explosionen und starke stellare Winde das Gas und die Sterne in Antlia 2 so stark auseinander getrieben. Auch die Dunkle Materie könnte dadurch stärker „ausgedünnt“ und verteilt worden sein als normalerweise üblich. „Aber selbst wenn die Sternbildung die Dunkle-Materie-Verteilung in Antlia 2 verändern konnte, muss sie dabei mit bisher beispielloser Effektivität gewirkt haben“, sagt Jason Sanders von der University of Cambridge.
Eine zweite Möglichkeit wäre, dass Antlia 2 mit einem ungewöhnlich großen Halo aus Dunkler Materie entstanden ist. Bei mehreren nahen Vorbeiflügen an der Milchstraße verlor sie dann einen Großteil ihrer Sterne, der Schwerkrafteinfluss des Halo sorgte aber dafür, dass die Galaxie als Ganzes kaum schrumpfte, sondern nur ausdünnte. „Sollte dieses Modell stimmen, dann müsste es in und um Antlia 2 eine große Menge an Trümmern dieses Gezeiteneffekts geben“, sagen die Forscher. „Das könnte man durch gezielte Durchmusterung des Gebiets um diese Galaxie testen.“
Nur die Spitze eines Eisbergs?
Vorerst jedoch bleibt Antlia 2 ein Rätsel – und es stellt sich die Frage, ob es möglicherweise noch mehr solcher „Geistergalaxien“ gibt. „Wir fragen uns, ob diese Galaxie nicht nur die Spitze eines Eisbergs ist“, sagt Matthew Walker von der Carnegie Mellon University. „Dann könnte die Milchstraße von einer ganzen Population von fast unsichtbaren Zwerggalaxien wie dieser umgeben sein.“ (Monthly Notices of the Astronomical Society, in press; arXiv: 1811.04082)
(University of Cambridge, 14.11.2018 – NPO)