„Wir beschäftigen uns mit den Auswirkungen frühkindlicher negativer emotionaler Erfahrungen. Dass Kinder, die unter ungünstigen Umständen aufwachsen, es im späteren Leben zumeist schwerer haben, ist längst bewiesen und konnte erst kürzlich durch Studien in rumänischen Waisenheimen belegt werden. Aber wir denken nicht nur als Psychologen, sondern auch als Physiologen und wollen eine andere Frage beantworten: Inwieweit haben die frühkindlichen negativen emotionalen Erfahrungen Auswirkungen auf die Reifung neuronaler Transmissionssysteme und damit die Chemoarchitektur des Gehirns? Inwieweit wird nachweisbar die anatomische Struktur bestimmter Hirnregionen verändert?“, so Poeggel
Die Gehirnpräparate, die Poeggel vor sich hat, stammen von jungen Degus, also meerschweinchenähnlichen Nagern. Diese Tiere bieten sich für Untersuchungen mit emotionalen Aspekten an, denn – ähnlich wie beim Menschen – kommen die Jungen schon mit funktionsfähigen Sinnen auf die Welt, „reden“ die Individuen akustisch miteinander und kümmern sich auch die Deguväter um ihren Nachwuchs.
Untergebracht sind die Tiere nicht im Leipziger Institut für Zoologie sondern beim Forschungspartner, dem Leibniz-Institut für Neurobiologie Magdeburg und dem Institut für Biologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Dort leben sie ihr relativ normales Familienleben – bis die Jungen von der Familie getrennt werden. Die Trennung erfolgt nur dreimal täglich je eine Stunde, so dass gewährleistet bleibt, dass die Winzlinge sich ausreichend bei Mama ernähren können.
Später werden die Degus, die diesem Stress der Einsamkeit ausgesetzt waren, mit jenen verglichen, die mit ihren Eltern und Geschwistern beisammen blieben. Diese Vergleiche geschehen sowohl durch Verhaltensexperimente, durch biochemische Laboruntersuchungen von Blut oder Gehirnflüssigkeit auf Botenstoffe als auch durch die mikroskopische Betrachtung des Gehirns.
Tierversuch belegt morphologische Veränderungen
Was also konnten die Leipziger und Magdeburger Biowissenschaftler bisher ermitteln? Unter anderem, dass die gestressten Tiere, wenn sie in einer Kiste isoliert werden, hektisch umherlaufen und die Einspielung mütterlicher Lockrufe kaum zur Kenntnis nehmen. Jungtiere ohne emotionale Defizite lassen sich hingegen leichter durch die Stimme der Mutter beruhigen.
„Wir haben jedoch nicht nur andere Verhaltensweisen festgestellt, sondern eindeutige morphologische Veränderungen“, so Poeggel mit Blick auf die Gehirnpräparate. „Die Dichte der lichtmikroskopisch sichtbaren Synapsen, also der Kontaktstellen im Gehirn, ist bei den emotional gestressten Tieren verändert im Vergleich zu den nicht-gestressten Kontrolltieren; und schaut man mit dem Elektronenmikroskop mit maixmaler Vergrösserung nach, dann zeigt sich, dass sich auch das Verhältnis erregender und hemmender Synapsen regionenspezifisch verändert hat. Da die Synapsen Strukturen für die Weiterleitung und Verarbeitung von Umweltsignalen sind, könnte man vermuten, dass bei den gestressten Tieren ein Ungleichgewicht zwischen erregenden und dämpfenden Impulsen entstanden ist, woraus vielleicht Lern- und Verhaltensstörungen, bzw. beim Menschen dann sogar psychische Krankheiten resultieren könnten.“
Natürlich gibt es noch viele unbeantwortete Fragen: „Eine unserer nächsten Untersuchungen soll ermitteln, inwieweit schon das Gehirn des Ungeborenen durch emotionalen Stress der Mutter verändert wird.“ Auf der derzeitigen Grundlagenforschung basierend könnte zudem an Möglichkeiten gearbeitet werden, die Folgen falscher Vernetzungen und des Ungleichgewichts der Botenstoffe durch rechtzeitige Therapien zu mildern.
Als wissenschaftliche Basis für die Ablehnung von Kindereinrichtungen möchte der Leipziger Professor seine Studien jedoch nicht verstanden wissen. „Mindestens ebenso wichtig wie die emotionale Zuwendung durch vertraute Personen ist für die Entwicklung des kindlichen Gehirns die ständige Beschäftigung mit angemessenen intellektuellen Aufgaben in einer Gemeinschaft mit anderen Kindern. Dabei ist es egal, ob diese Aufgaben von der Mutter oder von der Kindergärtnerin gestellt werden. Nicht nur wenn Umwelterfahrungen negativ, sondern auch wenn sie nicht komplex genug sind, entstehen im reifenden Gehirn nur Minimal- oder gar Fehlfunktionen“.
(idw – Universität Leipzig, 23.06.2005 – DLO)
23. Juni 2005