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Neurobiologie

Gehirntraining macht Tastsinn 30 Jahre jünger

Alterbedingte Degenerationserscheinungen durch Training rückgängig gemacht

Auf der Suche nach Möglichkeiten, Alterungsprozesse zu beeinflussen und damit positiv zu verändern sind Wissenschaftler einen großen Schritt weitergekommen:
Mit der Kombination aus speziellen Stimulationsprotokollen und psychophysischen Experimenten konnten sie erstmals nachweisen, dass das altersbedingte Nachlassen des Tastsinns durch geeignete Stimulationstechniken verbessert und damit rückgängig gemacht werden kann.

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Alltagskompetenz und Tastsinn

Wenn sich alten Menschen die Hemdknöpfe verweigern, der Schlüssel nicht ins Schloss will, sich der Schnürsenkel sperrt, ist ein mangelhafter Tastsinn schuld: Im Alter lässt er um bis zu 400 Prozent nach. "Eine zentrale Frage in der Altersforschung ist, ob die vielen zu beobachtenden altersbedingten Beeinträchtigungen tatsächlich das Ergebnis von Degenerations- und Abnutzungserscheinungen sind", erklärt Associate Professor Dinse. Wäre dies der Fall, müsste man davon ausgehen, dass sie weitgehend irreversibel wären. Es könnte sich aber auch um eine reine Funktionsstörung im Sinne einer so genannten maladaptiven Plastizität handeln. In diesem Fall wären solche Beeinträchtigungen durch geeignetes Training behandelbar. Um das ergründen, führten die Forscher Versuchsreihen mit 65- bis 89-Jährigen Probanden durch.

Tastfähigkeit des Fingers objektiv messen

Sie maßen zunächst die taktile "2-Punkte-Diskriminationsschwelle", die die Tastschärfe der Fingerkuppen objektiv beschreibt. Es wird die Fähigkeit von Versuchspersonen gemessen, zwei Punkte auf ihrer Zeigefingerkuppe räumlich zu unterscheiden. Dazu berührten die Probanden je zwei Nadeln, die in unterschiedlichen Abständen zueinander montiert waren. Bis zu einer gewissen Nähe nahmen sie die Spitzen noch als zwei getrennte wahr, standen sie jedoch sehr nahe beisammen, wurden sie als eine Nadel wahrgenommen. Das Ergebnis ist die so genannte Unterscheidungsschwelle.

Lernen durch passives Training

Dann absolvierten die Versuchspersonen ein "passives Training": Über mehrere Stunden hinweg wurden ihre Fingerspitzen mittels einer vibrierenden Membran gereizt. Diese kleinen Berührungsreize aktivieren bestimmte Bereiche der Zeigefingerspitze. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass, wie der kanadische Psychologie Hebb schon vor 50 Jahren postulierte, Gleichzeitigkeit (Simultanität) von Sinnesreizen die Art der synaptischen Übertragung zwischen Nervenzellen und damit Lernprozesse verbessert. Da diese "Koaktivierung" mobil über ein kleines tragbares Gerät erfolgte, konnten die Testpersonen während der Trainings normalen Tätigkeiten nachgehen.

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Das Ergebnis der Koaktivierung deutet tatsächlich darauf hin, dass es sich um eine "maladaptive Plastizität" handelt: Nach dreistündiger Stimulation des Zeigefingers hatte sich die taktile Diskriminationsfähigkeit der älteren Versuchsteilnehmer stark verbessert. So erreichte eine 85-jährige Person eine Tastschwelle, wie sie typischerweise bei 50-jährigen zu finden ist.

Alternatives Interventionskonzept: "Passives Gehirntraining"

"Der entscheidende Vorteil solcher passiver Stimulationsprotokolle ist, dass sie ohne aktives Mitmachen des Teilnehmers und sogar nebenbei ablaufen können, z.B. während der Teilnehmer liest, fernsieht oder spazieren geht", so Prof. Tegenthoff. "Die rein passive Stimulation verspricht neue Therapieansätze, gerade für ältere Menschen oder auch Patienten mit neurologischen Störungen, z. B. nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung. Sie können sich oft nicht ausreichend lange auf die erforderlichen Verhaltenstherapien konzentrieren oder selbst aktiv mitmachen". Der passiv orientierte Therapieansatz spart zudem Kosten aufgrund seines geringeren Personalbedarfs. Die Ergebnisse der Studien wurden im Fachmagazin „Annals of Neurology“ veröffentlicht.

Wunschbild "Jungbrunnen"?

In solchen Therapieansätzen sehen die Forscher einen wichtigen Fortschritt, vor allem angesichts der Alterstruktur industrialisierter Gesellschaften, in denen es immer mehr alte und weniger junge Menschen gibt. Voraussetzung dafür, dass alte Menschen lange selbstständig und allein leben können ist es, die sensomotorischen Fähigkeiten bis ins hohe Alter hinein "fit" zu halten. "Vor dem Hintergrund der demografischen Veränderungen ist ein besseres Verständnis altersbedingter Änderungen, insbesondere des Gehirns, Grundvoraussetzung, um die damit einhergehenden Probleme möglichst vorausschauend angehen zu können", erklärt Dinse. "Ein zentraler Gesichtspunkt ist dabei das, was man heute als 'gesundes Altern' bezeichnet: Dabei steht nicht im Vordergrund, immer älter zu werden, sondern möglichst lange gesund leben zu können."

(Ruhr Universität Bochum, 18.05.2006 – NPO)

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