Schlangen können mithilfe ihres Innenohres selbst kleinste Vibrationen der Sandoberfläche wahrnehmen, die durch die Bewegungen von Beutetieren verursacht werden. Dies hat jetzt ein internationales Wissenschaftlerteam gezeigt. Danach sind ihre Ohren so empfindlich, dass sie die Beute nicht nur kommen „hören“, sondern auch unterscheiden können, aus welcher Richtung sie sich nähert.
Die Forscher um Professor J. Leo van Hemmen und Paul Friedel von der Technischen Universität München (TUM) und vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience (BCCN) berichten zusammen mit ihrem Kollegen Bruce Young von der Washburn University in Topeka, Kansas, in der Fachzeitschrift Physical Review Letters über ihre Ergebnisse.
Das Vorurteil, Schlangen seien taub, ist weit verbreitet – was wohl daran liegt, dass sie keine von außen sichtbaren Ohren haben und es nur wenig wissenschaftliche Indizien dafür gibt, dass sie hören können. Nichtsdestotrotz haben Schlangen ein Innenohr mit einer funktionsfähigen Hörschnecke (Cochlea).
Jede Erschütterung auf einer sandigen Oberfläche verursacht nun Vibrationswellen, die sich von der Quelle aus auf der Oberfläche ausbreiten – so wie Wellen in einem Teich, nachdem ein Stein hineingeworfen wurde. Die Sandwellen breiten sich allerdings mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 Metern pro Sekunde viel schneller aus als Wasserwellen und ihre Amplitude beträgt nur wenige tausendstel Millimeter.
Kopf auf dem Sand
Dennoch kann eine Schlange diese winzigen Wellen wahrnehmen. Wenn sie ihren Kopf auf den Sand legt, werden die beiden Hälften des Unterkiefers durch die eintreffende Welle in Schwingung gebracht. Diese Schwingungen werden dann über eine Reihe von Knochen, die mit dem Unterkiefer verbunden sind, ins Innenohr übertragen. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Weiterleitung akustischer Signale durch die Hörknöchelchen im menschlichen Mittelohr. Die Schlange hört also im wahrsten Sinne des Wortes die Oberflächenwellen.
Säugetiere und Vögel können Geräusche orten, indem sie die zeitliche Verzögerung messen, mit der eine Schallwelle die beiden Ohren erreicht. Geräusche, die von rechts kommen, erreichen das rechte Ohr einen Bruchteil einer Sekunde früher als das linke. Für Geräusche, die von links kommen, ist das Umgekehrte der Fall. Aus dieser Zeitdifferenz berechnet das Gehirn, aus welcher Richtung ein Signal kommt.
Hören in Stereo
Durch eine Kombination von Forschungsansätzen aus der Biomechanik, der Schiffsbautechnik und der Modellierung neuronaler Schaltkreise haben Friedel und seine Kollegen gezeigt, dass Schlangen mit ihrem ungewöhnlichen Hörsystem dieses Kunststück ebenfalls beherrschen. Die linke und rechte Hälfte des Unterkiefers einer Schlange hängen nämlich nicht starr zusammen.
Vielmehr sind sie durch flexible Bänder miteinander verknüpft, die es der Schlange ermöglichen, ihr Maul enorm weit zu öffnen, um auch große Beutetiere zu verschlingen. Beide Hälften des Unterkiefers können sich so unabhängig voneinander bewegen. Legt die Schlange den Kopf auf den Boden, schaukeln sie ähnlich zwei einzelnen Boote auf einem See aus Sand und ermöglichen so das Hören in Stereo.
Eine Sandwelle, die von rechts kommt, wird die rechte Hälfte des Unterkiefers minimal früher erreichen, als die linke Seite und umgekehrt. Mit Hilfe mathematischer Modelle haben die Wissenschaftler die Bewegung des Unterkiefers in Antwort auf die eintreffende Oberflächenwelle berechnet. Sie konnten zeigen, dass der kleine Unterschied in der Ankunftszeit einer Welle zwischen dem rechten und dem linken Ohr ausreicht, der Schlange ein Richtungshören zu ermöglichen. Die neuronale Verschaltung des Gehirns erlaubt es ihr zu berechnen, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt.
Großer evolutionärer Vorteil
Die außergewöhnliche Beweglichkeit des Unterkiefers der Schlange ist in der Evolution entstanden, weil die Fähigkeit der Schlange, auf diese Weise sehr große Beutetiere verschlingen zu können, einen großen evolutionären Vorteil bietet, wenn Futterressourcen knapp sind und die Konkurrenz hart ist. Erst durch die Trennung der Unterkieferhälften wurde es möglich, auch diese besondere Form des Hörens hervorzubringen, so die Wissenschaftler.
(idw – Bernstein Centers for Computational Neuroscience, 31.01.2008 – DLO)