Klima

Sieben Monate auf einer Eisscholle

Drift-Expedition NP-35 liefert erstmals Daten über die Atmosphäre über der zentralen Arktis

Driftstation auf der Eisscholle © AWI /Graeser

Zum ersten Mal hat ein Deutscher an einer russischen Drift-Expedition teilgenommen und die Atmosphäre über der zentralen Arktis während der Polarnacht erforscht. Sieben Monate lang verbrachten die Forscher auf einer treibenden Eisscholle in der Arktis und gewannen Beobachtungsdaten aus einer Region, die normalerweise während des arktischen Winters unzugänglich und damit weitgehend unerforscht ist.

Die Arktis ist trotz ihrer Bedeutung für das Klimasystem der Erde immer noch ein weißer Fleck auf der Datenlandkarte. Kontinuierliche Messungen in der Atmosphäre über dem Arktischen Ozean fehlten bislang. Im Rahmen des Internationalen Polarjahres 2007/2008 durfte nun erstmals ein Ausländer an einer Driftexpedition (NP-35) des russischen Instituts für Arktis- und Antarktisforschung (AARI) in St. Petersburg teilnehmen.

Erste russisch-deutsche Kooperation auf der Eisscholle

Von September 2007 bis April 2008 war der Wissenschaftstechniker Jürgen Graeser von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft Teil des NP-35 Teams. Sieben Monate hat der 49-Jährige zusammen mit 20 russischen Kollegen auf einer drei Mal fünf Kilometer großen Eisscholle gelebt und gearbeitet.

„Ohne zeitlich und räumlich hoch aufgelöste Datenreihen im arktischen Winter können wir keine zuverlässigen Klimaszenarien entwickeln. Die Messwerte, die Jürgen Graeser im Rahmen der NP-35 Expedition gewonnen hat, sind einzigartig und werden die noch existierenden Unsicherheiten in den Klimamodellen deutlich verringern,“ erklärt Professor Klaus Dethloff, Projektleiter am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung.

Wertvolle Einblicke in die arktische Winter-Atmosphäre

Während der Drift hat Jürgen Graeser die Atmosphäre über dem Arktischen Ozean untersucht. Um die meteorologische Struktur der arktischen Grenzschicht und deren zeitliche Änderung zu messen, hat er regelmäßig einen heliumgefüllten Fesselballon steigen lassen. Die sechs am Seil befestigten Sonden haben Messwerte für Temperatur, Luftdruck, Feuchte und Wind ermittelt und an Graesers Computer gesendet. In der Schicht zwischen dem Erdboden bis in etwa 400 Meter Höhe finden die für das Klima wichtigen Austauschprozesse von Wärme, Impuls und Feuchte zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre statt.

Juergen Graeser mit Forschungsballon und "Miss Piggy", dem zeppelinförmigen Fesselballon. © AWI

Nun wurde erstmals die räumliche und zeitliche Struktur von bodennahen Temperaturinversionen über die gesamte Polarnacht vermessen. Zur Auswertung und Interpretation der Messdaten haben die Wissenschaftler in Potsdam Simulationen mit einem regionalen Klimamodell der Arktis durchgeführt. Vorläufige Vergleiche von Temperaturprofilen, die auf der Eisscholle gemessen wurden, mit solchen aus dem regionalen Klimamodell, unterstreichen die Wichtigkeit der von Jürgen Graeser durchgeführten Messungen. Es finden sich große Abweichungen zwischen Beobachtungs- und Modelldaten im Bereich vom Erdboden bis etwa 400 Meter Höhe. Der Zusammenhang der arktischen Grenzschicht mit der Entwicklung und der Zugbahn von Tiefdruckgebieten ist ein Schwerpunkt der anschließenden Untersuchungen in Potsdam.

Ozonmessung per Forschungsballon

Auch vertikal hochaufgelöste Ozonwerte aus der zentralen Arktis waren bisher rar. Um diese Datenlücke zu schließen, hat Graeser regelmäßig einen mit Radio- und Ozonsonde ausgestatteten Forschungsballon steigen lassen. Diese Ballone tragen die Sonden bis in etwa 30 Kilometer Höhe. Der Bereich der Ozonschicht in etwa 20 Kilometer Höhe war im vergangenen Winter in der gesamten Arktis ungewöhnlich kalt und setzte damit den in der Vergangenheit beobachteten Trend zu kälteren Bedingungen in dieser Höhe fort. Die Kälte hat eine erhebliche Zerstörung der arktischen Ozonschicht im vergangenen Winter begünstigt. Die einzigartigen Messungen von NP-35 werden wesentlich dazu beitragen, den vom Menschen verursachten Anteil an der Ozonzerstörung genauer zu bestimmen.

Das Leben auf der Scholle

Während sich Graeser auf Messungen der arktischen Atmosphäre konzentrierte, haben die russischen Wissenschaftler Untersuchungen der ozeanischen Deckschicht, der Meereiseigenschaften, der Schneebedeckung und der Energiebilanz über der Eisoberfläche durchgeführt. Außerdem haben sie atmosphärische Daten von Temperatur, Feuchte, Wind und Luftdruck am Boden und bei Radiosondenaufstiegen erfasst. Im Laufe des Winters ist die Scholle 850 Kilometer in nordwestlicher Richtung über den Arktischen Ozean gedriftet.

Während Graeser Anfang April von seinem Arktisaufenthalt nach Deutschland zurückkehrtewerden seine russischen Kollegen ihre Messungen noch bis zur geplanten Evakuierung der Station im September 2008 fortführen. „Die Zeit auf der Eisscholle habe ich sowohl persönlich als auch beruflich als unglaubliche Bereicherung erlebt“, so Graeser bei seiner Rückkehr. „Der hohe Arbeitsaufwand des straffen Messprogramms ließ die Zeit auf der Eisscholle extrem schnell vergehen.“

Zwischen Eisbärenwache und Forschungsarbeit

Das tägliche Leben war einerseits durch die Messungen, andererseits durch die gemeinsamen Mahlzeiten strukturiert. Ein Koch war für die Verpflegung des Teams zuständig, wobei jeder Überwinterer alle drei Wochen für einen Tag in der Küche mithalf. Dieser Küchendienst fiel zusammen mit dem Stationsdienst zur Kontrolle des Zustandes der Eisscholle und der Anwesenheit von Eisbären in Stationsnähe.

Wie sich herausstellte waren dies zwei wichtige Aufgaben, da die Eisscholle im Laufe des Winters mehrfach gerissen ist, sich der entstandene Spalt aber wieder verschloss. Zudem sorgten häufige Eisbärenbesuche für Aufregung bei den Expeditionsteilnehmern. Über ein Satellitentelefon war es Jürgen Graeser möglich, mit den Kollegen in Potsdam Kontakt zu halten und die aktuellen Messdaten zeitnah zu übertragen.

Das längerfristige Ziel besteht darin, die großen Unsicherheiten der gegenwärtigen Klimamodelle in polaren Breiten deutlich zu reduzieren. Um Modelle aufzustellen, benutzt man mathematische Beschreibungen für die physikalischen Prozesse, die in der Natur ablaufen. Diese so genannten Parametrisierungen basieren auf Messwerten und können nur dann realistische Klimasimulationen ermöglichen, wenn die Datengrundlage gut ist. Im November 2008 werden die am NP-35 Projekt beteiligten Wissenschaftler die Ergebnisse der Expedition im Rahmen eines internationalen Workshops in Potsdam diskutieren.

(Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, 15.04.2008 – NPO)

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