Geowissen

Lawinen auch am Flachhang

Neues Modell stellt bisherige Erklärungsversuche für Schneebrettlawinen in Frage

Beispiel einer aus der Ferne ausgelösten Schneebrettlawine. Die Bruchauslösung wurde durch einen Feldarbeiter oben auf dem Kamm eingeleitet. Obwohl die Reibungskräfte erst im Steilhang überwunden wurden, konnte sich der Bruch dennoch durch den Zwischenabschnitt ausbreiten. Diese Gegebenheit lässt sich mit dem vorgeschlagenen Modell auf natürliche Weise erklären. © A. Duclos, www.data-avalanche.org

Bisher galt: „Je flacher das Gelände, umso geringer das Risiko einer Schneebrettlawine.“ Dass diese Faustregel leider nicht unbedingt zutrifft, zeigt eine aktuelle Studie im Magazin Science. Das neue Modell basiert auf dem Zusammenspiel von der Entstehung und Ausbreitung von Rissen und der Reibung innerhalb von Schneefeldern und widerspricht bisherigen Theorien.

Jedes Jahr kommen rund 100 Wintersportler bei Lawinenunglücken ums Leben. In vielen Fällen werden die Lawinen durch die Wintersportler selbst ausgelöst. Man unterscheidet Lockerschneelawinen, die von einem Punkt ausgehen und Schneebrettlawinen, bei denen ein zusammenhängendes „Schneebrett“ den Hang hinab rutscht. Aufgrund von Niederschlag und Wärmefluss sind Schneefelder meist aus mehreren Schneelagen aufgebaut, die unterschiedlich fest sind.

Risse im Schnee als Indiz

Dass die Bruchauslösung in wenig geneigten Hängen genauso möglich ist wie in stark geneigten Hängen, zeigen neue Untersuchungen zum Verhalten von Schnee unter Last, die Joachim Heierli und Michael Zaiser von der Universität Edinburgh in Schottland und Peter Gumbsch vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und vom Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg veröffentlichen. Dabei haben die Materialforscher neue Mechanismen betrachtet, wie Risse in Schnee entstehen und wachsen.

Da Schnee aus Eiskristallen und viel Hohlraum besteht, können Eiskristalle, die in einer tiefergelegenen Schicht abbrechen oder sich voneinander lösen, enger zusammenrücken. Dadurch vergrößert sich der Hohlraum. Breitet sich diese Kavität unter der Schneedecke aus, sackt die Schneedecke danach zusammen. Dort wo nun die beiden frischen Kontaktflächen aufeinandertreffen wirken jetzt

Reibungskräfte und entscheiden über den Abgang einer Lawine.

Hohlraum mit Reissverschlusswirkung

„Ist einmal eine solche Kavität entstanden, besteht die Gefahr, dass sie sich von selbst rasch ausbreitet. Die Wirkung ist ähnlich dem Öffnen eines Reissverschlusses: Die Ausbreitung der Kavität trennt die gebundenen Schneeschichten voneinander ab. Sie kann beispielsweise innerhalb von Sekunden

vom flachen Gelände aus einen Hang hochlaufen und dort eine Lawine auslösen. Es kommt zu einer sogenannten Fernauslösung, die für Skifahrer besonders heimtückisch ist“, erklärt Joachim Heierli von der Universität Edinburgh.

Verantwortlich für die Entstehung von Schneebrettlawinen ist also das Zusammenspiel von Rissen, die sich flächig zwischen Schneeschichten ausbreiten und der Reibung, die zwischen den nun voneinander abgelösten Schneeschichten vorliegt. Das Überraschende dabei ist, dass der Kollaps, der dazu führt, dass sich zwei Schneeschichten vorübergehend voneinander lösen ebenso leicht in flachem Gelände wie im Steilgelände entstehen kann. Dagegen herrscht das Reibungsdefizit, das zum Abgleiten eines Schneebretts und damit zum Lawinenabgang führt, in erster Linie in steilem Gelände vor.

Mehr als nur Scherkräfte

„Mit unseren Ergebnissen muss die weit verbreitete Auffassung, dass Schneebrettlawinen nur durch Scherkräfte verursacht werden, in Frage gestellt werden“ erklärt Michael Zaiser von der Universität in Edinburgh. „Der Schlüssel zur Entstehung von Schneebrettlawinen liegt im besseren Verständnis

des Materials Schnee. Wir haben gezeigt, wie dieses Material in sich selbst kollabiert und können damit die Lawinenentstehung viel besser nachvollziehen und einen Beitrag zur Sicherheit leisten“, erklärt Peter Gumbsch, Leiter des Fraunhofer- Instituts für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg und Halle und

Leiter des Instituts für Zuverlässigkeit von Bauteilen und Systemen an der Universität Karlsruhe.

(Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, 21.07.2008 – NPO)

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