Das Schmelzen des grönländischen Eisschilds könnte viel schneller ablaufen als bisher prognostiziert und bis zum Ende des Jahrhunderts den Meeresspiegel um das Zwei- bis Dreifache der bisherigen Prognosen ansteigen lassen. Das ist das Ergebnis einer jetzt in „Nature Geoscience“ erschienenen Studie, in der Forscher das Abschmelzverhalten des Laurentide-Eisschilds nach der letzen Eiszeit analysierten.
{1l}
Noch herrscht unter den Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber, wie stark das grönländische Eisschild, eine Eisfläche von 1,7 Millionen Quadratkilometern, zu den zukünftigen Veränderungen des Meeresspiegels beitragen könnte. Einer der Gründe dafür ist das Fehlen von ähnlichen Ereignissen in der jüngsten Geschichte: „Wir haben noch nie ein Eisschild stark zurückgehen oder gar verschwinden sehen, aber genau das könnte in den nächsten Jahrhunderten bis Jahrtausenden mit dem grönländischen Eisschild passieren“, erklärt Anders Carlson, Geologe an der Universität von Wisconsin-Madison. „Was wir noch nicht kennen ist die Schmelzrate des grönländischen Eisschilds.“
Letzte Eiszeit-Eisdecke als Modell
Um Licht auf diese Frage zu werfen, analysierten Wissenschaftler der Universität von Wisconsin-Madison und des Center of Climate Systems Research der Columbia Universität das Abtauen der Laurentide-Eisdecke, des letzten Eisschilds, das auf der Nordhalbkugel nach der letzten Eiszeit verschwand. Sie bedeckte große Teile des heutigen Nordamerika und begann vor rund 10.000 Jahren abzuschmelzen. Das Eisschild gilt als die nächste Annäherung an die Verhältnisse beim grönländischen Eisschild.
Die Laurentide-Eismassen schmolzen damals offenbar nicht gleichmäßig, sondern erlebten, wie die Daten, aber auch Computermodelle zeigen, zwei Pulse beschleunigten Schmelzens, einen vor 9.000, den anderen vor rund 7.600 Jahren. Während dieser Phasen stieg der Meeresspiegel jeweils um knapp 1,5 Zentimeter pro Jahr, insgesamt um sieben beziehungsweise fünf Meter.
Verdopplung bis Verdreifachung der Prognosewerte
Entscheidend dabei: Die Pulse ereigneten sich immer dann, wenn die sommerlichen Lufttemperaturen sich in Bereichen bewegten, die auch für Grönland Ende diese Jahrhunderts vorhergesagt sind. Da die bisherigen Schätzungen zum Meeresspiegelanstieg durch das Schmelzen des grönländischen Eises solche Pulse nicht mit berücksichtigen, könnte sie deutlich zu niedrig liegen.
Die jüngsten Prognosen aus dem vierten Sachstandbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gehen von einem maximalen zusätzlichen Anstieg des Meeresspiegel von zehn bis 20 Zentimetern in den nächsten hundert Jahren aus. Dabei stützen sie sich jedoch primär auf die Entwicklungen der Eismassen in den letzen zehn Jahren. Nach den aktuellen Berechnungen der Forscher wären jedoch Anstiege von mehr als acht Millimetern pro Jahr und 30 bis 60 Zentimeter bis zum Ende des Jahrhunderts allein durch die Eisschmelze durchaus im Rahmen des Möglichen. Das entspricht einer Verdopplung bis Verdreifachung der bisherigen Schätzungen.
Eis reagiert schneller als gedacht
„Wir sprechen hier nicht über etwas Katastrophales, aber wir könnten in Bezug auf den Meeresspiegel in den nächsten hundert Jahren eine sehr viel größere Reaktion des grönländischen Eisschilds sehen als zurzeit vorhergesagt“, erklärt Carlson. „Die geologischen Daten, die wir über die Rückzugsgeschichte der Laurentide Eisdecke gewonnen haben, gibt uns jetzt einen Einblick darin, wie schnell diese großen Blöcke aus Eis schmelzen und den Meeresspiegel erhöhen können.“
„Das Wort ‚glazial’ war immer mit der Assoziation von etwas sehr langsamen verbunden“, erklärt Allegra LeGrande vom Center of Climate Systems Research der Columbia Universität und dem NASA Goddard Institute for Space Studies, die die Computermodellierung im Rahmen der Studie leitete. „Die neuen Daten aus der Vergangenheit kombiniert mit unserm Modell für die Vorhersage des zukünftigen Klimas deutet aber daraufhin, dass glazial alles andere als langsam ist. Die vergangenen Eisschilde reagiert schnell auf ein sich veränderndes Klima und haben das Potenzial für ein ähnliches Verhalten auch in der Zukunft.“
(University of Wisconsin-Madison, 01.09.2008 – NPO)