In einem Schweizer Alpensee wird der Löwenanteil des Stoffumsatzes von einem winzigen Teil der Bakteriengemeinschaft geleistet. In bisherigen Ökosystemstudien wurden solche Minderheiten oft vernachlässigt. Wie Wissenschaftler im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Science“ (PNAS) berichten, kann das leicht zu falschen Rückschlüssen führen.
Einer internationalen Forschergruppe um Niculina Musat vom Max-Planck- Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen ist das Kunststück gelungen, zeitgleich den Stoffwechsel und die Identität einzelner Bakterienzellen zu bestimmen. Im Schweizer Alpensee Lago di Cadagno verglichen die Forscher die Stoffwechselleistung dreier Bakterienarten. Im Gegensatz zu den meisten Binnengewässern ist der Lago di Cadagno stabil geschichtet. In der Übergangsregion zwischen der oberen, sauerstoffhaltigen und der unteren, sauerstofffreien Schicht leben die Chromatium okenii, Lamprocystis purpurea und Chlorobium clathratiforme – allesamt Mikroorganismen, die ohne Sauerstoff leben und Photosynthese betreiben.
Mehrheit ist „faul“
Das Ergebnis war der Analysen war überraschend: Den Löwenanteil des Stoffumsatzes leistete ein winziger Teil der Bakteriengemeinschaft. Jene Bakterienart, die nur 0,3 Prozent aller Bakterien stellte, war für über 40 Prozent der Ammonium- und 70 Prozent der Kohlenstoffaufnahme zuständig.
Chlorobium clathratiforme ist die in der untersuchten Schicht häufigste Bakterienart, sie stellt bis zu 80 Prozent der Zellen. Dennoch war C. clathratiforme nur für etwa je 15 Prozent der gesamten Ammonium- und Kohlenstoffaufnahme zuständig. Lamprocystis purpurea, eine häufige, kleine Art, nahm weniger als zwei Prozent der gemessenen Nährstoffe auf. Die vergleichsweise großen Zellen von Chromatium okenii hingegen, die einen winzigen Teil der Bakterienpopulation ausmachten, waren für den Großteil des Umsatzes von Kohlenstoff und Ammonium verantwortlich.
Minderheiten ökologisch bedeutsam
„Die meisten Studien über die Ökologie mikrobieller Gemeinschaften beschäftigen sich mit häufig auftretenden Organismen. Das gleiche gilt für genetische Analysen von Umweltproben. Organismengruppen mit einer Häufigkeit von unter ein Prozent werden hingegen üblicherweise für unwichtig gehalten und vernachlässigt. Doch gerade diese Minderheiten können für das Verständnis
eines Ökosystems wesentlich sein, das zeigen unsere Ergebnisse ganz klar. Schenkt man ihnen keine Beachtung, kann man leicht zu falschen Schlüssen kommen“, betont Mitautor Marcel Kuypers.
Auch große innerartliche Aktivitätsunterschiede
Als Musat und ihre Kollegen einzelne Zellen innerhalb einer Arten verglichen, stießen sie auf eine zweite Überraschung: Auch Zellen der gleichen Art unterschieden sich sehr viel stärker als erwartet in ihrer Aktivität. Die Forscher vermuten genetische Ursachen. Die individuellen Unterschiede beruhten
möglicherweise auf kleinen Unterschieden im Genom, die sich im Laufe der Evolution durch Mutationen entwickelt haben. Nur Mutationen, die ihren Trägern Vorteile in ihrem begrenzten Lebensraum verschaffen, setzen sich durch.
Analyse durch Ionenbeschuss
Möglich wurden die vorliegenden Messungen mit Hilfe der so genannten NanoSIMS-Technik. Bei der Sekundär-Ionen-Massen-Spektrometrie (SIMS) wird die Probe mit Ionen beschossen. Die dadurch herausgeschlagenen und entstehenden sekundären Teilchen werden registriert und geben Aufschluss über die chemische Zusammensetzung der Probe. Während mit SIMS eine Auflösung im Mikrometerbereich erreicht wird, ist es mit NanoSIMS möglich, ein dreidimensionales Bild der Element- und Isotopenzusammensetzungen einer Probe mit einer räumlichen Auflösung kleiner als 50 Nanometer zu erhalten.
Die Bremer Max-Planck-Forscher haben ihr NanoSIMS seit Mitte 2008 in Betrieb und haben dieses besondere Massenspektrometer, von dem es weltweit nur etwa 20 Stück gibt, auf ökologische Fragestellungen optimiert. So wurde es möglich, die Verteilung ausgewählter markierter Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen innerhalb einzelner Zellen anzuzeigen. Gleichzeitig identifizieren die Forscher die Bakterienart mit Hilfe molekulargenetischer Techniken. „Diese Technik wird in Zukunft die ökologischen Untersuchungen revolutionieren“, ist sich MPI- Arbeitsgruppenleiter Marcel Kuypers sicher.
Übertragung auch auf menschliche Gesellschaft
Der Befund der Forscher erinnert auch an das Funktionieren menschlicher Gesellschaften: Die so genannte Pareto-Verteilung des italienischen Ökonoms Vilfredo Pareto belegt, dass nur 20 Prozent einer Population etwa 80 Prozent der Leistung erwirtschaften. Prinzipielle Bestätigung gefunden hat dieser empirische Befund in einer Vielzahl von wirtschaftlichen und soziologischen Studien und findet Anwendung in modernen Management-Konzepten.
(Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie, 04.11.2008 – NPO)