Die japanische Insel Okinawa ist etwas Besonderes: Denn sie ist eine von nur einer Handvoll Regionen weltweit, in denen es ungewöhnlich viele Hundertjährige gibt. Mehr als 400 davon und unzählige rüstige Alte von 80 und mehr Jahren leben hier. Die Lebenserwartung auf Okinawa ist höher als irgendwo sonst. Und auch der Gesundheitszustand der Senioren ist ungewöhnlich gut: Ihre Arterien sind physiologisch jung geblieben, ohne Spur von Verkalkung.Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes sind selten und selbst Krebs und Demenz scheinen einen Bogen um die Hundertjährigen von Okinawa zu machen.
900 Hundertjährige unter der Lupe
Aber warum? Das wollte der Kardiologe und Altersforscher Makoto Suzuki von der Universität Okinawa herausfinden. Gemeinsam mit den US-Forschern Bradley Willcox und Craig Willcox von der Universität von Hawaii begann er 1975 die größte und langanhaltendste Studie an Hundertjährigen, die es bis heute gibt. Mit Hilfe des Koseki, des japanischen Familien-Registers, konnten die Wissenschaftler das Geburtsjahr ihrer Studien-Teilnehmer genau bestimmen. In regelmäßigen Untersuchungen und Befragungen wurden Gesundheitszustand, Lebensweise und soziale Umstände ermittelt. Bis heute haben Suzuki und Co. so das Leben und die Daten von gut 900 Hundertjährigen, vielen ihrer Verwandten und weiterer Langlebiger erfasst und ausgewertet.
„Hara Hachi Bu“
Sehr schnell zeigte sich, dass die Langlebigkeit der Okinawa-Bewohner zu einem Teil auf ihrer Lebensweise beruhte. Denn in Bezug auf Ernährung, Bewegung und Stressabbau verhalten sich die Hundertjährigen geradezu mustergültig – und dies vollkommen unbewusst. Sie folgen einfach nur ihrer Tradition. Die typisch japanische Küche mit wenig Fleisch, viel frischem Gemüse, Soja und Fisch macht ihre Ernährung quasi von selbst fett- und kalorienarm, dafür aber reich an Anti-Oxidantien. Und dann gibt es da noch das „Hara Hachi Bu“: Den Brauch, nur so viel zu essen, bis man sich zu 80 Prozent satt fühlt.
Als Folge sind Übergewicht und Fettleibigkeit auf Okinawa so gut wie unbekannt – zumindest unter den Japanern, die noch den alten Traditionen folgen. Mit Einzug der westlichen Fast-Food-Kultur beginnt sich das jedoch zu ändern. Auch in anderen „Nestern“ von extrem Langlebigen wie beispielsweise auf Sardinien oder im Kaukasus scheinen solche Umwelteinflüsse eine durchaus wichtige Rolle zu spielen.
Langlebigkeit im Familienpack
Die Forscher um Suzuki gaben sich damit nicht zufrieden und suchten weiter. Jetzt in den Genen. Immerhin schätzten sie deren Einfluss auf rund 20 bis 30 Prozent. Fündig wurden sie, als sie die Geschwister ihrer Hundertjährigen genauer betrachteten. Sie verglichen jeweils alle fünf Jahre deren Mortalität mit derjenigen von willkürlich ausgewählten Personen der gleichen Jahrgänge. Es zeigte sich, dass bei jedem Fünfjahresintervall die Angehörigen der Hundertjährigen eine um die Hälfte geringere Sterblichkeit aufwiesen. Im Durchschnitt hatten sie dadurch eine um 11,8 Jahre längere Lebensdauer als es dem Durchschnitt ihres Jahrgangs entsprach. Damit war klar: Die Hundertjährigen mussten zumindest einen Teil ihrer Fitness und Langlebigkeit ihren Genen verdanken. Aber welchen?
Welche Rolle spielt das HLA-System?
Einen ersten Hinweis fanden Suzuki und sein Kollege in einer Gengruppe auf Chromosom 6. Hier liegt das humane Leukozyten-Antigen-System (HLA-System). Anhand der von diesem Genkomplex erzeugten Proteine identifiziert unser Immunsystem Zellen und Gewebe als körpereigen oder aber fremd. Außerdem liegen hier auch Gene, die eine Rolle für Fruchtbarkeit und die Kontrolle bestimmter Botenstoffe spielen.
Bei den Hundertjährigen von Okinawa schienen nun bestimmte Varianten dieses Komplexes häufiger vorzukommen als in der Kontrollgruppe. Das könnte ihnen Vorteile in Form eines geringeren Risikos für entzündliche Erkrankungen und auch Autoimmunkrankheiten bringen, so vermuteten die Forscher. Ihre 1987 in der Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlichte Studie sorgte weltweit für Aufsehen. Zahlreiche Forschergruppen begannen nun, die HLA-Varianten auch bei anderen Hundertjährigen zu untersuchen – allerdings mit extrem widersprüchlichen Ergebnissen. Inzwischen gilt das HLA-System zwar als beteiligt, aber nicht mehr als zentral für die menschliche Langlebigkeit.
Nadja Podbregar
Stand: 16.04.2010