Lange Zeit galt die Tiefsee als Wüste, als lebensfeindliches Ödland, in dem kaum etwas existiert und das daher auch keinen Schaden nehmen kann. Für viele ist der Meeresgrund daher bis heute nichts als eine reichhaltige Quelle für Rohstoffe und Bodenschätze, bereit ausgebeutet zu werden „Mine it, drill it, dispose into it, or fish it“, zitiert Robert S. Carney von der Louisiana State Universität die gängigen Vorstellungen. „Es gibt ja doch nichts, was davon betroffen sein könnte. Und wenn es Folgen gibt, dann ist die Tiefsee wenigstens schön groß und – das ist das Beste – aller Sicht verborgen.“
Doch damit könnte jetzt Schluss sein. Denn was die fünf Census-Projekte zur Tiefsee in den letzen knapp zehn Jahren zu Tage förderten, war überraschend, faszinierend und verändert das gesamte Bild dieses Lebensraums nachhaltig. In mehr als 210 Expeditionen durchmusterten die 344 Wissenschaftler aus 34 Nationen die steil abfallenden Ränder der Kontinente, die rätselhaften Ökosysteme der „Seamounts“, hydrothermalen Schlote und Quellen und erkundeten sowohl die vielgestaltigen Klüfte und Berge des Mittelatlantischen Rückens als auch die flachen Weiten der scheinbar so öden Tiefsee-Ebenen.
Seegurke als Staubsauger
Und vor allem dort enthüllten die Kameras, Sonargeräte und autonomen Tauchfahrzeuge eine erstaunliche Lebensfülle: Bis heute sind 17.650 Arten aus Wasserschichten tiefer als 200 Meter neu in die große Census-Datenbank eingetragen, 5.722 Arten davon stammen jedoch sogar aus der Zone des lichtlosen Dunkels, Tiefen von einem und mehr Kilometern. Zu ihnen gehören so seltsame Wesen wie die transparente Seegurke Enypniastes. Wieein Staubsauger schlürft sie unablässig organisches Material vom Meeresboden in sich hinein, während sie mit zwei Zentimetern in der Minute auf ihren Tentakeln vorwärts kriecht.
Erdöl und Walknochen als Wurm-Leibspeise
Oder der einsame Röhrenwurm, der am Grund des Golfs von Mexiko in knapp 1.000 Metern Tiefe in seiner Höhle saß und zunächst völlig unauffällig schien. Doch als der Roboterarm des Tauchfahrzeugs ihn anhob, strömte Erdöl sowohl aus seiner nun verwaisten Höhle als auch aus seiner Mundöffnung. Der Wurm ernährte sich offensichtlich von chemischen Bausteinen des Öls und war von den Forschern quasi „beim Dinner“ gestört worden. Eine ähnlich ungewöhnliche Leibspeise hat auch der Wurm Osedax, von Census-Forschern am Grund des antarktischen Polarmeeres entdeckt: Er frisst sich durch die Knochen von auf dem Meeresboden gesunkenen Walskeletten.
So artenreich wie der tropische Regenwald
„Die Tiefseefauna ist so reich an Artenvielfalt und so wenig beschrieben, dass es schon anormal ist, auf eine bekannte Art zu stoßen“, erklärt David Billett vom britischen National Oceanography Centre. „All die verschiedenen Arten erstmals zu beschreiben, die sich in einer nur Kaffeetassen-großen Probe von Tiefseesediment finden ist eine echte Herausforderung.“ So waren von den 680 Ruderfußkrebsen, die das Census-Projekt „CeDAMar“ im Schlamm der Tiefsee-Ebene des Südost-Atlantiks entdeckte, 99 Prozent zuvor völlig unbekannt, von den restlichen Organismen noch immer 50 bis 85 Prozent.
Insgesamt aber entpuppte sich gerade die vermeintliche Schlammwüste als vor Leben wimmelndes Ökosystem. Die vorgefassten Meinungen darüber, in welchen Umgebungen sich Artenvielfalt finden lässt, müssen damit komplett revidiert werden. „Einige Wissenschaftler haben die Artenvielfalt des Schlamms sogar mit der der tropischen Wälder verglichen“, berichtet Carney. „Im College habe ich gelernt, dass eine hohe Biodiversität mit dem Formenreichtum des Lebensraums zusammenhängt – viele verschiedene Nischen und Ecken. Doch man kann sich kaum etwas monotoneres und nischenloseneres vorstellen als den Tiefseeschlamm.“
Das Reich der Anpassungskünstler
Und doch haben sich gerade hier erstaunlich viele Organismen an die Dunkelheit und relative Nahrungsarmut angepasst. Sie zehren von organischen Abfällen, die aus den helleren Regionen nach unten sinken oder leben in enger Gemeinschaft mit Mikroben, die Erdöl, Methan oder auch die Knochen von Walen zersetzen und ihnen damit die dringend gebrauchten Nährstoffe liefern. „Um in der Tiefe zu überleben, müssen die Tiere magere oder ganz neue Ressourcen finden und nutzen können. Ihre große Artenvielfalt zeigt, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich auf diese Weise anzupassen“, so Carney.
Auch nach zehn Jahren der Forschung sind die Geheimnisse dieser Tiefseebewohner noch lange nicht vollständig erkundet. Noch immer ist nicht geklärt, welche unsichtbaren Barrieren und Territorien die Verteilung der Tiefseearten bestimmen. Das Fazit von Chris German von der Woods Hole Oceanographic Institution ist noch immer gültig: „Die Tiefsee ist das größte kontinuierliche Ökosystem und der größte Lebensraum der Erde. Es ist aber auch das am wenigsten untersuchte.“
Stand: 26.02.2010