Sie leben an den entgegengesetzten Enden der Erde, 11.000 Kilometer trennen sie. Und doch gehören sie zu einer Art: Einer der Meilensteine im Census of Marine Life ist die Entdeckung, dass die Lebenswelten von arktischen und antarktischen Meeren verblüffende Gemeinsamkeiten aufweisen. Von Riesen der Meere wie dem Blauwal bis zu winzigen Würmern, Krebsen und Schnecken fanden die Forscher 235 Tierarten, die sowohl am Nordpol als auch im Südpolarmeer vorkommen. Warum dies so ist und wie gerade die kleinen Tiere es schafften, sich über die Barriere der warmen Zonen hinweg so zu verbreiten, ist bisher noch völlig unklar. DNA-Analysen sollen hier nähere Aufschlüsse schaffen.
Antarktis als Lebensspender
Wie schon in anderen Bereichen der Unterwasserwelt verblüffte auch in den Eismeeren vor allem die schiere Vielfalt des Lebens. Bis heute haben die mehr als 500 Wissenschaftler der beiden polaren Census-Projekte 7.500 Arten für die Antarktis und 5.500 für die Arktis identifziert. Allein die DNA-Analysen von Mikroben, die in den zwei bis zehn Liter fassenden Meerwasserproben aus dem Südpolarmeer gefunden wurden, enthüllten 370.000 verschiedene Arten, ein paar tausend davon unbekannt. „Vor hundert Jahren sahen Antarktis-Forscher wie Scott und Shackelton vor allem eins: Eis”, erklärt Victoria Wadley, Polarforscherin des australischen Antarktisprogramms. „Im Jahr 2009 sehen wir hier überall Leben.“
Und nicht nur das, die Antarktis entpuppte sich auch als wahrer Lebensspender für weiter nördlich gelegene Gefilde. So scheint das Vorrücken und Schrumpfen der südpolaren Eisflächen im Laufe der Jahrmillionen wie eine große Pumpe nicht nur kaltes Wasser in die Weltmeere gespült zu haben, sondern auch allerlei polare Spezies. Immer wenn das Eis die Antarktis vom Rest der Welt abriegelte, entwickelten sich hier neue Oktopusse, Seespinnen, Meeresasseln und viele andere Tierarten. Gab das Eis den Weg nach Norden wieder frei, breiteten diese sich mit den Strömungen aus.
Kampf mit Eisbären, Wellen und Krabbenfresser-Robben
Das Leben und Forschen im Eis war dabei selbst für gestandene Polarforscher oft alles andere als einfach. Während die Forscher des arktischen „ArcOD“-Projekts ihre Proben nur unter den wachsamen Augen bewaffneter Eisbärenwächter entnehmen konnten, hatten die Antarktisforscher des „CAML“-Projekts auf ihren Forschungsfahrten mit den bis zu 16 Meter hohen Wellen des Südpolarmeeres zu kämpfen. Und doch, die Begeisterung überwiegt, wie Mark Harris, ein Lehrer aus dem amerikanischen Utah, im Buch „Schatzkammer Ozean“ deutlich schildert. Er half den Census-Forschern beim Markieren von Krabbenfresser-Robben in der Antarktis.
„Unmittelbar nach dem Mittagessen entdeckten wir einen Krabbenfresser. Das Robben-Team hüpfte in das Zodiac und tuckerte durch große Stücke Pfannkucheneis. Mein Herz begann etwas schneller zu schlagen, je näher wir der Robbe kamen. Brigitte zielte mit dem Betäubungsgewehr und schoss. Betäubungsmittel ergoss sich in die Robbe. Mein Adrenalinspiegel stieg. Schließlich kam das Kopfnicken. Bevor ich noch recht wusste, was geschah, rang ich auf einem Eisblock im Antarktischen Ozean mit einer gut 270 Kilogramm schweren Robbe. Wilder geht es nicht!“
„Sobald die Robbe aus dem Wasser gezogen war, trat das Robben-Team in Aktion, jedes Mitglied hat seine Aufgabe“, so Harris weiter. „Messungen, Ultraschall, Gewebebiopsie, Blutproben und Wiegen sind die Zielvorgaben bei jedem Fang. Ein großartiger Tag! Ich liebe es, hier draußen zu sein, und ich habe wiederum keine Ahnung, was der nächste Tag bringen wird. Alles was ich sagen kann, ist: ‚Her damit!“
Neues Leben nach dem Eisabbruch
Eine überraschende Entdeckung machten im Antarktissommer 2006/2007 Census-Forscher auf dem deutschen Forschungsschiff Polarstern, als sie das Gebiet des Larsen-Schelfeis an der Ostküste der antarktischen Halbinsel besuchten. Hier waren in den letzten zwölf Jahren insgesamt 10.000 Quadratkilometer Eis verloren gegangen, eine Fläche die ungefähr der Größe Jamaikas entspricht. Ein Teil davon brach als massive Eisplatte von 325 Quadratkilometern ab und driftete ins Meer hinaus.
Das wirklich Spannende aber hatte sich seither außer Sichtweite der spähenden Satellitenaugen ereignet: am Meeresgrund. Denn zum ersten Mal seit 100.000 Jahren war jetzt das Sediment in diesem Teil des Wedellmeeres dem Sonnenlicht ausgesetzt, das Dauerdunkel der abschirmenden Eismassen war Vergangenheit. Und prompt hatte das Leben begonnen, sich dieses Habitat wieder zu Eigen zu machen. Mehr als 1.000 Arten entdeckten die Meeresforscher im Larsen-Gebiet, darunter etliche bisher unbekannte Arten von Nesseltieren und Krebsen. Einer davon entpuppte sich als echter Rekordhalter: Der Flohkrebs aus der Gattung Eusirus ist fast zehn Zentimeter lang, so groß wie kein anderer seiner Verwandtschaftsgruppe. Er ging den Forschern mittels Köderfalle ins Netz.
„In diesen einzigartigen Ozeanen, wo die Wassertemperatur an der Oberfläche kälter ist als in der Tiefe, setzen wir die ersten Maßstäbe der marinen Biodiversität“, so das Fazit von Ian Poiner, dem Vorsitzenden des Census-Lenkungskomitees. „Daran lässt sich zukünftig der Wandel messen. Das ist ein signifikantes Erbe für zukünftige Generationen.“
Nadja Podbregar
Stand: 26.02.2010